Startseite
Jetzt spenden

Ich werde nicht erwachsen!

Es ist früh am Morgen, und Biloo und ihre Mutter gehen zur Pumpe Wasser holen. Die Mutter hat Probleme mit dem Sehen und deshalb nimmt Biloo sie an die Hand und führt sie zur Pumpe. Die große Metallkaraffe kann Biloo noch nicht tragen, da sie erst zwölf ist, deshalb muss ihre Mutter noch selber Wasser holen. Aber bald ist Biloo auch groß genug, um alleine zu gehen. Bis dahin trägt sie eine kleinere Karaffe.

Biloo mochte schon immer den Weg zur Pumpe. Es sind nur zehn Minuten bis dahin, aber so früh morgens sind nur wenig Menschen in der Gegend unterwegs. Die Vögel hier singen ganz besonders schön um diese Jahreszeit und es steht morgens immer ein Hauch von Nebel über den Reisfeldern. Biloos Mutter redet nicht mehr viel, sie hat es nie getan. Nur einmal hatte sie ein langes Gespräch mit Biloo geführt, bei dem sie ihr etwas über die Männer erklären wollte. Biloo hatte das aber nicht verstanden.

Biloo hat noch nichts gegessen, weil sie zum kochen Wasser brauchen. Deswegen mag sie diesen Weg auch so gern, weil sie genau weiß, dass es bald etwas zu essen gibt. Schon lange hat sie sich damit arrangiert, dass es zwingend ist, morgens das Wasser zu holen. Früher wollte sie nie mit zur Pumpe sondern wartete lieber am Wellblechhaus, denn sie war zu schwach und zu müde. Sie bekommt immer als letztes etwas zu essen. Erst der Vater, dann die Brüder, und sie und ihre Mutter essen zuletzt. Nach dem Essen geht sie immer mit ihrer Freundin Kakoli zur Schule. Biloo mag die Schule. Der Lehrer ist nett und sie bekommen viele Informationen über ihr Land, Mathe und lernen sogar ein bisschen Englisch. Ihr älterer Bruder kam schon einmal mit einem blauen Auge von der Schule zurück. Sein Vater wollte ihn auf eine Madrasha (Koran-Schule) schicken, und dort scheinen die Lehrer nicht so nett zu sein wie bei mir, dachte Biloo.

Kakoli und Biloo sind schon seit klein auf befreundet. Kakoli ist ein Jahr älter als Biloo, aber von kleinerer Statur. Den genauen Tag ihrer Geburt wissen beide nicht, es muss irgendwann in der Monsunzeit gewesen sein.

Eines Tages kam Kakoli nicht mehr zur Schule. Die Leute hatten Biloo erzählt, sie hätte jetzt einen Mann und wohne bei dessen Familie im benachbarten Dorf. Angeblich eine gute Partie. Viel wusste Kakoli nicht über ihn, hatte ihn aber schon einmal gesehen. Er besaß ein kleines Geschäft und hatte zwei kleine Reisfelder, die er von seinem Vater geerbt hatte. Dass Kakoli weg ist, hat Biloo sehr traurig gemacht, da die anderen Mädchen in ihrem Dorf alle älter oder noch ganz jung sind und sie so nur wenige Freundinnen hat. Aber keine davon ist wie Kakoli.

Es ist jetzt schon fast ein Jahr her, dass sie Kakoli nicht mehr gesehen hat. Kakoli darf ihr Haus nur sehr selten verlassen. Nur einmal hat Biloo mit ihr sprechen können. Es war an einem Feiertag, kurz nachdem Kakoli verheiratet wurde. Biloo schlich sich als es dunkel wurde von zu hause weg und besuchte ihre Freundin heimlich. Als Kakoli sie erkannte, fing sie an zu weinen.

Sie erzählte ihr, dass sie bei ihrem Mann im Bett schlafen muss und er ihr jeden Abend wehtun würde. Aber sie könne sich nicht wehren, denn er ist viel stärker und älter und er darf es auch, das hatte ihr Vater Kakoli gesagt. Er hat ihr auch verboten zu weinen und ihr gedroht, sie zu verstoßen. Also weint sie heimlich beim Kochen, wenn ihr Mann arbeitet. Tagsüber sei er immer ganz nett zu ihr und würde sich liebevoll um sie kümmern, wenn es ein Problem gäbe. Das macht es für sie erträglicher, da sie auch schon von Männern gehört hat, die ihre Frauen verantwortlich machen, wenn es Probleme gibt.

Als Biloo an dem Abend nach Hause kam, war ihre Mutter sehr in Sorge und schimpfte so doll mit ihr, dass Biloo direkt ins Bett ging. Aber sie fragte ihre Mutter noch, ob ihr ein Mann auch mal so wehtun werde wie Kakoli. Da fing ihre Mutter an zu weinen und brachte sie zu Bett, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Einige Tage später wurde Kakoli schwanger und als sie einen gesunden Jungen zur Welt gebracht hatte, war ihr Mann überglücklich und behandelte sie wie eine Königin.

Was wäre wohl gewesen, wenn sie ein Mädchen bekommen hätte. Das fragte Biloo sich immer wieder. Und eines Tages, als ihr Vater ihr erzählte, er hätte einen guten Jungen für sie, da war sie voller Angst. Sie hatte solche Angst, dass sie beschloss an diesem Abend einzuschlafen und so stark zu träumen, dass sie für immer schlafen würde. Sie versuchte an all die schönen Dinge zu denken, die sie in ihrem Dorf kannte und dachte so stark, dass sie einschlief.

Und tatsächlich: sie merke nicht, dass sie aufwachte. Sie träumte so lange von ihrem Dorf, dass sie sich nicht mehr an etwas anderes erinnern konnte. Sie hatte als Letztes nur noch das Bild von ihr und Kakoli vor Augen, wie sie lachend zur Schule gingen.

Mehr BeiträgeAlle Beiträge

Ihre Spende kommt an.

Alle Projekte ansehen
Jetzt spenden

Sichere SSL-Verbindung