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Ich träume von einem wunderbaren Leben

Zwischen 6. und 8. Juni treffen sich die Staats- und Regierungschefs der größten Industrienationen zum Weltwirtschaftsgipfel in Deutschland. Traditionellerweise sind die Interessen der ärmsten Länder der Welt nicht ausreichend vertreten, wenn sich die als G8 bezeichneten mächtigsten Volkswirtschaften beraten. Die weltweite Kampagne DEINE STIMME GEGEN ARMUT will das mit einer Reihe von Veranstaltungen während des Gipfels ändern. Am 7. Juni setzen sich namhafte Künstler - allen voran Herbert Grönemeyer als Mitorganisator, aber auch Bono von U2, Seeed, 2Raumwohnung, Die Fantastischen Vier und viele andere - für die Belange der Entwicklungsländer ein. Symbolisch stehen acht ausgewählte Entwicklungsländer, die P8 ("poor 8"), für alle armen Länder der Welt. Auf dem Konzert STIMMEN GEGEN ARMUT vertreten musikalische Botschafter und Redner aus den P8 die Menschen des Südens. Die Ärmsten selbst werden anhand von Videobotschaften aus den acht Ländern - eines davon ist Bangladesch - zu Wort kommen.

Mit Hilfe der bangladeschischen Menschenrechtsorganisation Ain o Salish Kendra (ASK) drehe ich zusammen mit Straßenkindern aus Bangladeschs Hauptstadt Dhaka das Video zum Konzert. Am ersten Drehtag wollen wir die Lebenssituation der Straßenkinder einfangen, die am Hafenterminal von Dhaka, dem Sadarghat, leben und arbeiten. Ich treffe Shagor und Sonia in einem der Drop-in-Centers, die ASK für Straßenkinder unterhält. Hier können sie sich ausruhen, sich waschen, etwas lernen oder sich in eine Ecke zurückziehen und wie jedes Kind mit Wachsstiften malen. Ein Stück Normalität, Auszeit vom alltäglichen Überlebenskampf.

Jahangir von ASK ruft Shagor her. Die Betreuerin des Centres hat sein Gesicht gewaschen und ihn eincremt. Sein Gesicht leuchtet. Shagor setzt sich zwischen mich und Jahangir. Es ist so klein, denke ich, zehn soll er sein? Er ist so groß wie ein schmächtiger Erstklässler. "Was ist passiert?", fragt Jahangir und deutet auf eine große Narbe auf Shagors Kopf. "Mein Vater hat meine Mutter immer geschlagen. Manchmal auch mich. Meine Mutter hat Selbstmord gemacht. Mein Vater ist jetzt weg", erzählt er mit hängendem Kopf. Ich atme tief durch. Auch Sonia ist da. Ihre schwarzen Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, die steif durch bunte Bänder von ihrem Kopf abstehen. Wer sie so schon frisiert hat, will ich wissen. "Meine Mama", sagt sich lachend. Sonia lebt mir ihrer Mutter auf der Straße. Die Mutter arbeitet als Tagelöhnerin und auch als Prostituierte. Die beiden vierzehnjährigen Mädchen Lipi und Asma leben in einem Slum. Schon seit ihrer Kinderheit müssen sie arbeiten und so zum Lebensunterhalt der Familien beitragen.

Das ganze versammelte Team, Jahangir, unsere Kamerafrau Lipi und unsere Reporterin Asma sowie die kleinen Protagonisten Shagor und Sonia, fährt mit der Rickscha zum Hafen. Ich fahre mit Shagor und Sonia. Die beiden sind völlig aufgedreht und klettern auf der kleinen Rickscha auf und ab. Shagor fotografiert mit meinem Handy Passanten. Und wir werden neugierig angestarrt: Was macht dieses Europäerin mit zwei dreckigen Straßenkinder in einer Rickscha, kann man aus den erstaunten Augen ablesen. Manche Leute lachen. Am Hafen angekommen zupfen mich Shagor und Sonia an der Hose: "Kaufst Du uns was Süßes?" Natürlich kann ich nicht nein sagen. Der Budenbesitzer staunt nicht schlecht, als ich mit den beiden ankomme. Sie entscheiden sich für eine Tüte Bonbons.

Wir betreten das Hafengelände. Mehrere große Metallstege führen über das schräg abfallende Ufer zu Pontons, an denen dutzende von Fähren und zahllose kleine Boote festgemacht haben. Von hier fahren Reisende ins ganze Land. Wie immer ist viel los: Menschen tragen ihr Hab und Gut auf ihr Schiff, andere entladen überfüllte Boote. Ein Kommen und Gehen. Die Uferböschung ist voller Müll. Das Wasser des Flusses Buriganga ist schwarz und ölig. Plastik, Essensreste, Tierkadaver, alles treibt auf der schillernden Wasseroberfläche. Kinder, die hier wohnen und arbeiten, baden im Fluss. Das Wasser riecht so faulig, dass ich mich abwende. Kein Wunder, dass sich Shagor ständig kratzt. Seine Haut ist vom verseuchten Wasser angegriffen. Jahangir zeigt vom Steg auf das Ufer: "Hier wohnen die Kinder. Sie schlafen unter Kartons oder in herumliegenden Rohren." Unterhalb des Stegs wachsen ein paar Büsche, in denen einige kleine Jungs sitzen. Sie schnüffeln Klebstoff. Nachts will ich hier nicht sein, denke ich mir, Drogendealer und sonstige krumme Geschäfte. Ich blicke den kleinen Shagor mit seinen Kulleraugen und seinem breiten Grinsen an. Bei dem Gedanken, dass der Kleine hier jede Nacht schläft, schnürt es mir die Kehle zu. Ich will nicht wissen, was er schon alles erlebt hat.

Lipi macht Aufnahmen vom Treiben am Hafen, von den Plätzen wo die Kinder schlafen. Eine große Schar Straßenkinder hat sich um uns herum versammelt. Sie sind alle neugierig. Als ich meine Kamera auspacke, geht das Geschrei los: Jeder will ein Bild und jeder hat noch verrücktere Ideen, wie er sich fotografieren lassen will. Ein Junge fragt mich ständig nach Geld. "Gib mir hundert Taka!", sagt er fordernd. Normalerweise gibt man Bettlern einen Taka oder auch fünf, aber hundert, ganz schon frech. Irgendwie macht mir der Kleine Angst. Sein Gesicht hat etwas hartes, gemeines. Es sagt mir, dass er zu allem bereit ist. Er ist der Anführer der kleinen Gang. Wir verlassen den Kai und laufen hinüber zum Ufer. Unter einem alten Metallsteg hausen ein paar Familien. Auf der anderen Seite drängen sich ein paar Hütten, zusammengeschustert aus Plastikplanen und ein paar Strohmatten. Ein kleines Kind sitzt alleine auf einer Eisenstange des verrosteten Stegs. Sein Gesicht ist verkrustet mit Dreck, überall Fliegen. Hier ist Shagor zu Hause. Wieder atme ich tief durch. Sofort bildet sich eine Menschentraube um das Videoteam herum. Ein Frau zieht an meinem Ärmel: "Schauen Sie nur, wie wir hier leben! Wir haben nichts". Ja, sage ich leise, ich sehe es. Sagor erzählt seine Geschichte. Nachdem sich seine Mutter erhängt hat, ist der Vater mit ihm in die Stadt gekommen. Am Bahnhof von Dhaka hat er Shagor einfach ausgesetzt. Wo der Vater jetzt ist, weiß er nicht. Er schlägt sich hier am Hafen mit kleinen Arbeiten durch. Bei einem Arzt war er noch nie. "Ich hoffe, dass ich eine gute Arbeit finde, wenn ich groß bin," sagt er in die Kamera, "wenn ich dann krank werde, kann ich zum Arzt gehen."

Wir wollen weiter und noch Aufnahmen in einem kleinen Park machen, in dem die Straßenkinder oft rumhängen, abends Prositutierte und Drogendealer ihrem Geschäft nachgehen. Der kleine Anführer der Jungsbande steht immer noch neben mir. Er ist keinen Schritt von mir gewichen. Seine Geldforderungen hat er inzwischen eingestellt. "Gibt mir Arbeit," sagt er bittend. "Was für eine Arbeit?", frage ich erstaunt. "Ich mache alles, ich will nur Arbeit," wiederholt er immer wieder. Ich kann ihm keine Arbeit geben. Was soll ich denn tun? "Gibt mir Arbeit!", sagt er. Wir gehen zurück zur Straße und ich steige mit Shagor und Sonia auf eine Rickscha. "Nimm mich mit!", brüllt der Kleine. Es geht nicht, es geht nicht. "Ich komme wieder, bestimmt," versuche ich ihn zu beruhigen. Keine Spur mehr von Härte ins seinem Gesicht, auch der durchtriebene Anführer ist nur ein Kind von zehn oder elt Jahren. Tränen bahnen Spuren in seinem staubigen Gesicht. Ich halte Sonia fest und herrsche den Rickschafahrer an: "Fahren Sie!" Der Kleine, ich weiß nicht einmal seinen Namen, folgt uns durch die engen Gassen Old Dhakas bis wir ihn auf der ersten großen Straße abschütteln.

Am nächsten Tag fahren wir nach Mohammadpur, ein Viertel Dhakas. Hier leben Lipi und Asma in einem Slum. Die Hütten aus Wellblech, Holz und Plastikschuhen drängen sich links und rechts einer kleinen feuchten Gasse. In jedem Zimmer sitzen viele Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Die Männer versuchen irgendwie Geld zu verdienen. Im Vergleich zu den Leuten am Hafen gibt es hier eine Wasserpumpe und die Hütten machen einen einigermaßen stabilen Eindruck. Doch auch das Leben hier ist unsicher. Immer wieder werden Slums geräumt und abgerissen. Erst vor wenigen Wochen brannte ein Slum im selben Stadtviertel vollständig ab. Hier treffen wir die zehnjährige Sapna. Sie wohnt hier mit ihrer älteren Schwestern und deren Mann. Ihre Mutter hatte schweres Asthma und musste aufs Land zurückkehren. Die Drittklässlerin muss jetzt selbst für sich aufkommen. Früher hat sie in einer Glasfabrik gearbeitet, heutet sammelt sie Glasscherben und verkauft sie. Als sie in Lipis Kamera spricht, beginnt sie zu weinen. Der Schwager schlägt sie, die Kleine ist eine Last. Wenn doch nur die Mutter da wäre. Auch Lipi, unsere Kamerafrau, hofft auf eine bessere Zukunft. Sie würde gerne studieren, mehr lernen und dann eine gute Arbeit finden: "Ich träume von einem wunderbaren Leben," sagt sie der Kamera.

Am Abend dieses Tages haben wir alle Aufnahmen gedreht. Ich verspreche den Kindern mit dem fertigen Video zurückzukommen, damit wir es uns gemeinsam ansehen können. Es waren nur zwei Tage, aber nichts in sieben Monaten Bangladesch hat mich so berührt wie die Kinder vom Hafen. Sie sind allein und auf sich gestellt, allen Gefahren der Großstadt ausgesetzt. Irgendwie kommen sie damit zurecht, sie wissen, wie sie überleben können. Doch was wird aus ihnen werden? Was wird aus ihrem Traum von einem wunderbaren Leben?

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