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Höllenfahrt ins Paradies

Der Busbahnhof in Dhaka erinnerte mich eher an einen Hafen; dutzende schrottreife Überlandbusse warten in einem ungepflasterten Staubmeer auf ihre Abfahrt. Riesige Mengen an Waren werden in Unheil verkündenden Stapeln auf den Busdächern befestigt, lebendige Lautsprecher auf "volume max." bestürmen den Neuankömmling und preisen die Vorzüge ihres Busses. Man wählt und setzt sich in einen davon.

Das Innere: der mit blauem Samt(imitat) überzogene Thron, auf dem man die nächsten sechs Stunden Angstschweiß gebadet verbringen wird, ist so weich und durchgesessen, dass man verwundert darin versinkt. Über dem Steuermann hängt eine verehrungswürdige, goldene Plastikwanduhr und zeigt den Zeitpunkt des letzten Aufbäumens der Batterie. An der Decke über dem Mittelgang erheitern tellergroße Milchglas-Deckenlampen das von der europäischen Schlichtheit geprägte Gemüt, kontaktfreudig zu europäischen Köpfen wie die Ventilatoren, mit denen sie sich schmerzhaft abwechseln. Hat man sich gesetzt und irgendwie mit der bengalischen Beinfreiheit arrangiert, lässt man den Blick durch den angenehm leeren Bus schweifen. Wow, wenn das so bleibt kann ich mich ja sogar hinlegen!

Der Bus rollt an und die Fahrt geht los.

Nach 50 Zentimetern bleibt der Bus stehen, weil die meisten Fahrgäste erst jetzt aufhören, draußen zu diskutieren, zu rauchen und Tee zu trinken und langsam einsteigen.

Denke ich. Doch nach weiteren 50 Zentimetern bleibt der Bus stehen, weil noch mehr Fahrgäste erst jetzt aufhören, draußen zu diskutieren, zu rauchen und Tee zu trinken und langsam einsteigen.

Jetzt fährt der Bus los.

Denke ich. Nach 50 Zentimetern bleibt der Bus stehen, weil sich - um es vorweg zu nehmen - nun die vorletzten Fahrgäste entscheiden, spontan mitzufahren, aufhören zu diskutieren, zu rauchen und Tee zu trinken und langsam einsteigen. Jetzt fährt der Bus los.

Die Letzten stellen ihre Teetasse hin, rufen ihrem Gesprächspartner noch etwas zu und springen auf.

Auf der Straße bleibt der Bus im ewigen Stau Dhakas stecken. Ganz ruhig, sage ich mir, und nehme einen tiefen Zug Autoabgase. Nach 100 Metern biegt der Bus von der Strasse ab. Tanken. Einige Fahrgäste scheinen es sich doch anders überlegt zu haben und steigen aus. Vielleicht wollten sie ja auch nur Kippen an der Tanke kaufen, oder Tee, und haben dazu halt mal den Reisebus genommen. Jetzt fährt der Bus los.

Nach ca. zwei Stunden Stau und wahnsinnigen Anhalte-Ritualen wurden meine Gebete erhört, nur scheinbar etwas missverstanden. Der Verkehr lichtete sich und die Luft wurde etwas reiner. Ah.... Leider schien das dem Busfahrer auch zu gefallen, und in der Verzückung, in welche ihn die frische Luft ihn zu bringen schien, trat er aufs Gas als ob die vier apokalyptischen Reiter hinter uns her wären.

Seine Strategie bestand wohl darin, so schnell zu fahren, dass wir einfach über Schlaglöcher hinweg flögen - der Plan ging leider nicht auf und ich musste meinen Pullover um meine Knie wickeln, um diese vor den schmerzhaften Aufschlägen an der Holzrückseite des Vordersitzes zu schützen.

Der Bus begann zu scheppern wie der einstürzende Turm von Babylon, die Zeiger der goldenen Wanduhr führten einen Can-Can auf und die Stossdämpfer gackerten wie Hühner im Angesicht eines Fuchses im Stall. Die Glasscheibe neben mir hatte wohl schon ein Schlagloch zuviel erlebt und war zerbrochen gewesen, jemand hatte sie aber durch das Überkleben des Risses mit einem Glasstück repariert.

Hier gibt es ein Spiel und das heißt: ich bin größer und schneller als du und wenn du nicht ausweichst, dann mache ich dich platt. Die Regeln sind folgendermaßen: beide Teilnehmer rasen mit Vollgas und wild hupend aufeinander zu, der kleinere der beiden wartet bis zur letzten Sekunde und dann noch eine und weicht dann (ggf. in den Strassengraben) aus. Alternativ kann man das Spiel auch zu dritt spielen. Der überholende dritte Teilnehmer zieht dann todesmutig in die Lücke zwischen Gegenverkehr und Vorgänger.

Vor nicht langer Zeit ist ein voll beladener LKW beim Ausweichen in eine Teestube gefahren - glücklicherweise war Ramadan und somit keine Gäste darin. Wehe den Ramadan-Brechern!

Ich genieße den Fahrtwind durch das offene Fenster. Man hat mir gesagt, dass es gefährlich ist, sich hinter bengalische Frauen zu setzen, da diese Busfahrten nicht gewohnt sind und somit das Abenteuer oft durch Übergeben aus dem Fenster bereichern… Also behalte ich das Mädchen vor mir gut im Auge, sie wirkt ganz fröhlich. Nach einiger Zeit lässt meine Aufmerksamkeit nach, ich beginne ein paar Fotos zu machen und das Unheil nimmt seinen Lauf. Wieder mal dazu gelernt, ab jetzt werde ich immer eine Tüte und Klopapier mitnehmen!

Und endlich ist es soweit: der Bus ist kaputt! Die Bremsen haben angefangen zu rauchen. An einer Teestube in irgendeinem Kaff müssen wir anhalten und die Mannschaft steigt aus, um das Schiff wieder flott zu machen. Man muss dazu sagen, dass ein Bus in Bangladesch mindestens einen Kapitän, einen Maat und einen Leichtmatrosen hat.

Der Kapitän steuert das Gefährt durch die feindliche Flotte, der Maat macht ihn auf Gefahren aufmerksam und der Leichtmatrose (oft ein kleiner Junge) hängt aus der offenen Tür heraus, wirbt potentielle Fahrgäste durch lautes Schreien und Gestikulieren, hindert durch Ausstrecken des Armes überholende Fahrzeuge und beschimpft sie. Während also die Mannschaft und irgendwelche anderen Leute am Rad drehen, tummeln sich die Passagiere um die Teebude. Der Teebudenbesitzer ist ein Musterbeispiel an bengalischer Gastfreundschaft und stopft mich mit Tee, Zigaretten und Betelnüssen voll, was von allen umstehenden Schaulustigen beifällig benickt wird. Eigentlich bin ich ja Nichtraucher und die Betelnuss tut auch ihre Wirkung... aber ich folge nicht dem Beispiel der Bengalin sondern gehe tapfer in den Bus um meinem edlen Spender ein kleines Geschenk zu holen: eine Werbemütze der Firma Sto, die dieser stolz aufsetzt und nun wie ein König in seinem Teeladen sitzt. Es ist unglaublich welche Wirkung man mit solch kleinen Geschenken erreichen kann!

Endlich ist die Bremse repariert und die Fahrt geht weiter. Man gewöhnt sich doch echt an alles, und mittlerweile kann ich sogar den Gegenverkehr entgegenschauen, ohne meine Hände um den Sitz zu verkrampfen. Die Zeit verstreicht und die Sonne neigt sich dem Horizont zu. Plötzlich bemerke ich, dass sich am Himmel Wolken befinden. Dieser Anblick gibt mir seltsamerweise ein extremes Gefühl von Freiheit, ich kann zuerst nicht sagen warum.

Doch dann wird mir klar: Ich habe seit Wochen keinen Himmel mehr gesehen! In Dhaka ist so viel Dunst und Smog in der Luft, dass man nur eine weiße Fläche sieht! Es ist unbeschreiblich, wie einen solche Dinge rühren können, ich wäre vor Glück am liebsten durch den Bus getanzt!

Irgendwann erreichen wir dann die Distrikthauptstadt Netrakona. Im Vergleich zu Dhaka ein kleines Dorf! Romantische Südasien-Stimmung, Rikschas mit Petroleumlampen, die am Boden leuchten wie Glühwürmchen in der Luft - Verkäufer, die in ihren Hütten sitzen wie Priester in ihren Tempeln und tausend seltsame Gerüche, die einem aus der fast elektrizitätslosen Dunkelheit entgegenströmen... dann kommen wir an den Rand der sowieso eher ländlichen Stadt. Alle menschlichen Geräusche ersterben und man hört nur noch das Quaken der Frösche, Zirpen der Grillen und Holpern der Rikscha.

Wir halten vor einem Schiebetor, das vom Hausmeister geöffnet wird und dieser führt mich durch das unfertige und trotzdem schon wieder zerfallende Krankenhaus, in welchem ich die nächsten Tage ein gesamtes Stockwerk für mich alleine haben kann. Der Weg in den dritten Stock ist unheimlich kahl und unbeleuchtet, es riecht nach Baumaterialien. Es gibt keine Einrichtung; die passende Szenerie für einen Horrorfilm! Aber die Monsterschaben und Geisterwölfe sind schon schlafen gegangen und so falle auch ich todmüde in mein Krankenbett.

Am nächsten Morgen stehe ich mit der Sonne auf, trete auf die Dachterrasse hinaus und bin verzaubert von der Schönheit des Augenblicks

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