Gefesselt an die Gegenwart
Es ist Mitte Oktober. Eigentlich ist der Sommer auch in Bangladesch vorbei, trotzdem ist es noch drückend heiß. Der Himmel erstrahlt in hellem blau und es ist keine Wolke weit und breit zu sehen, die sich Anschickt, die Sonne davon abzuhalten ihre geballte Kraft zu demonstrieren. Gefühlt sind es weit über 40 Grad.
Wir befinden uns in einem kleinen Dorf in Balapara, in einer sehr ländlichen Gegend im Norden von Bangladesch. In näherer Umgebung gibt es weder größere Städte, geschweige denn Krankenhäuser. Zwei Mitarbeiter der Jagorani Chakra Foundation und ich sitzen gerade beim Treffen einer Gruppe Frauen, die Teil des Projekts "Ein Leben lang genug Reis" von NETZ sind. Die 15 Frauen sitzen auf dem Lehmboden, auf ausgelegten alten Betonsäcken. Unsere Anwesenheit scheint sie einzuschüchtern, denn keine von ihnen traut sich etwas zu erzählen. Erst als wir anfangen Fragen über ihre Lebenssituation zu stellen, kommen vereinzelte zögerliche Antworten.
Sie berichten, dass gerade eine sehr schwere Zeit für sie angebrochen ist. Zwischen September und November gibt es jedes Jahr kaum Arbeit auf den umliegenden Feldern, weil die Erntezeit gerade beendet ist. Keine von ihnen hat in den letzten Tagen mehr als zwei Mahlzeiten zu sich genommen. Wenn überhaupt.
Das Projekt läuft erst seit einigen Monaten in Balapara. Begonnen wurde damit, dass die ärmsten Frauen der Region ermittelt wurden. Sie haben weit unter 25 Euro-Cent am Tag für ihre Familien zur Verfügung, sind chronisch unterernährt, besitzen kein Land und viele von ihnen müssen ihren Haushalt alleine führen. Sind die Frauen ausgewählt, wird mit ihnen und ihren Familien ganz individuell ein Plan erstellt, wie sie sich selbst aus der gröbsten Armut befreien können. Das nötige Startkapital in Form von Gemüsesamen, einer Kuh, Hühnern oder auch einer Nähmaschine, je nachdem was die Frau für sich ausgewählt hat, bekommen sie im Anschluss. Zusätzlich bekommen sie Trainings die ihnen vermitteln, wie sie damit am besten Profit machen können. Erste Erfolge stellen sich in der Regel aber erst nach ein paar Monaten ein, wenn zum Beispiel das erste Gemüse geerntet und für den eigenen Bedarf verwendet werden kann.
So weit sind die Frauen in Balapara noch nicht. Zwar haben sie inzwischen ihre gewählten Aktivitäten aufgenommen, doch es dauert noch, bis sich die ersten Erfolge zeigen werden. Nach dem Treffen besuchen wir eine der Frauen in ihrem Zuhause. Ihr Name ist Rokeya Taleb, sie ist 38 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Ziemlich stolz zeigt sie uns die Kuh, die sie bekommen hat. Hinter dem Haus hört man ein paar Enten quaken, auch diese hat sich Rokeya ausgesucht. Diese möchte sie aufziehen und später auf dem Markt die Eier verkaufen.
So richtig glücklich wirkt Rokeya dennoch nicht, als sie uns ihre Tiere zeigt. Zu gering ist die Hoffnung, dass sie sich wirklich aus der schweren Lage befreien kann. Dafür ist sie viel zu sehr an ihre beschwerlichen Lebensumstände gewöhnt. Als wir sie fragen, ob sich durch das Projekt schon etwas für sie verändert hat, kann sie ihre sich nicht länger zusammenreißen. Plötzlich bricht sie in Tränen aus und berichtet schluchzend: "Es ist alles so schwer! Ich habe seit Tagen nicht mehr gegessen, muss mich um die Tiere kümmern, kann meinen Kindern kaum Zukunft bieten und mein Mann ist die meiste Zeit in Dhaka, verdient aber längst nicht genug!"
Ich bin perplex. Ratlos stehe ich Rokeya gegenüber. Alles was mir gerade in den Kopf kommt scheint mir banal und inhaltslos zu sein. Was weiß ich schon von ihrem Leben? Ist es nicht reine Heuchelei, wenn ich ihr gut zurede und verspreche, dass sich bestimmt bald etwas ändern wird? Wenn sie nur hart genug arbeitet und weiter an dem Projekt teilnimmt? Ich bringe kein Wort heraus. Vielleicht war das die beste Entscheidung. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht!
Irgendwann überwinden wir dann aber doch die Stille und reden noch ein bisschen über Rokeyas Familie. Sie ist verheiratet. Ihr Mann arbeitet als Tagelöhner in Dhaka. Meist ist er den ganzen Monat weg. Ob er Geld mit nach Hause bringt, hängt davon ab, ob er Glück hatte und Arbeit gefunden hat. Letzten Monat brachte er 1.000 Taka mit, das sind etwa zehn Euro. Zehn Euro für einen ganzen Monat. Davon müssen auch die Tochter und die beiden Söhne der Familie versorgt werden. Derzeit geht nur die Tochter von Rokeya zur Schule. Sie besucht die 8. Klasse und hat dafür ein Stipendium von einer anderen Organisation versprochen bekommen. Das Geld dafür wurde der Familie allerdings noch nicht bezahlt.
Mir ist die Situation sehr unangenehm, da ich die Frau nicht noch weiter in die Enge treiben möchte. Trotzdem frage ich sie, was sie sich für die Zukunft wünscht. Diese Frage scheint sie tatsächlich weiter zu verunsichern. Aber anders als ich es erwartet habe. Für einen Moment weicht der Schmerz aus ihrem Gesicht und sie denkt nach. Dann fängt sie an zu reden: "Alles was ich mir wünsche ist, dass ich meinen Kindern ein besseres Leben als meines bieten kann. Es ist so wichtig Bildung zu haben. Ich kann weder lesen noch schreiben - meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich!" An sich selber, ihr eigenes Wohl, ihre eigene Zukunft denkt Rokeya nicht, das ist ihr fremd. Zu sehr ist sie daran gewohnt, dass ihre Gedanken vom Hunger sie an das Hier und Jetzt fesseln.