Gast und Gastfreundschaft
Ratter, ratter, ratter. Der Riksacha-ähnliche bhan wirft mich hin und her. Ein Schlagloch. Aua! Jetzt weichen wir dem schnell heranfahrenden Bus aus. Dazu fahren wir sehr, sehr nahe an die Straßenseite heran, die begrenzt wird von einem zwei Meter unter uns liegenden Feld. Ich bete zu Allah und allen weiteren in Bangladesch vorhandenen Göttern. Als der Bus an uns vorbei fährt, beuge ich mich zusätzlich noch nach vorne. Aus Angst, dass mein Schal irgendwo hängen bleibt und ich dadurch erdrosselt werde. Aber ich wurde erhört und die Fahrt kann weitergehen. Ratter, ratter, ratter. Nächstes Schlagloch. Aua... Unsere Fahrt endet, als der bhan nicht mehr weiter fahren kann. Die Straße ist zerstört, vermutlich durch Überschwemmungen. Nur eine aus Bambus zusammengebundene Brücke ermöglicht den weiteren Weg zu Fuß.
Meine Kontaktperson Jesmin und ich kommen gerade von einer Schulveranstaltung. Dabei soll den eingeladenen Eltern klar gemacht werden, wie wichtig die Grundbildung für ihre Kinder ist. Bei dem Treffen haben wir Flyer verteilt, Reden gehalten und Beispielsituationen durchgespielt. Ich habe so gut wie möglich geholfen. Allerdings wurde mir meine besondere Stellung wieder bewusst, als extra und speziell für mich Kekse und Wasser aufgetischt wurden.
Wir setzen unseren Weg zu Fuß fort. Unser Ziel ist das Haus von Jesmin, sie hat mich heute zu sich eingeladen. Schon auf dem kurzen Stück zu ihrem Haus entdecken mich mehrere Kinder und folgen uns fröhlich. Als wir Jesmins Haus erreichen, ist die Zahl der uns hinterher laufenden Kinder auf beachtliche zehn angestiegen.
Ich trete ein und sofort bietet Jesmin mir etwas zu essen an. Ich lehne höflich ab, bekomme aber fünf Minuten später trotzdem Snacks serviert. In der Zwischenzeit drängt das ganze Dorf in den kleinen Raum. Mir werden alle möglichen Verwandten vorgestellt, dass reicht von der Schwiegermutter bis hin zu Schwester des Ehemannes und deren Kinder. In Bangladesch zieht die Frau nach der Hochzeit zu der Familie ihres Mannes.
Alle sind sehr freundlich und interessiert. Ich werde eingeladen, auch über Nacht zu bleiben. Da ich am nächsten Tag jedoch schon einen festen Plan habe, muss ich leider ablehnen. Ich glaube, ich kann diese Gastfreundschaft niemals ganz nachvollziehen. In Deutschland ist man es gewöhnt, nur eine gewisse Zeit als Gast zu bleiben und besonders bei neuen Bekannten wäre eine Übernachtung doch sehr fragwürdig. Doch hier in Bangladesch werde ich nicht nur sofort zum Essen eingeladen, auch das öfters spontane Übernachten ist kein Problem und passiert mir allzu oft. So habe ich in den eineinhalb Monaten, die ich bei USS verbracht habe, bereits bei drei verschiedenen Kolleginnen übernachtet. Eine weitere neue Erfahrung war es für mich, dass durch mangelnde Unterbringungsmöglichkeiten alle Frauen in einem Bett schlafen. Meistens wohnen die Ehemänner unter der Woche, das heißt von Samstag bis Donnerstag, sowieso nicht in ihren Häusern, sondern in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, der 200 bis 300 km entfernt liegen kann.
Während ich mich mit Jesmins Verwandten unterhalte, kocht sie schon wieder etwas für mich. Dieses mal ist es etwas Süßes, mit Milch und Zucker. Als sie mir das bringt, schenkt sie mir außerdem noch Haargummis. "Weil du heute zum ersten Mal mein Haus besuchst." Während ich mir noch Gedanken über Gast und Gastgeber mache, kocht Jesmin schon das Nächste, diesmal frische Kuhmilch. Extra für mich, weil ich die so mag.
Ich trinke aus und muss mich langsam auf den Heimweg machen. Denn ich möchte zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Und das ist in Bangladesch in der Winterzeit bereits gegen 17:30 Uhr. Ich steige also wieder auf einen bhan und rattere die Straße entlang.
Und mache mir so meine Gedanken. Ich als "Gast" in Bangladesch? Und Bangladesch: gastfreundlich?