Fremde im eigenem Land
Wenn man in Bangladesch den Begriff Adivasi verwendet, dann sind damit die Ureinwohner des indischen Subkontinents gemeint. Genaue Angaben über die Zahl der in Bangladesch lebenden Adivasis sind nicht möglich. Die letzte Volkszählung, welche die Gruppe der Adivasis extra aufgeführt hat, liegt bereits sechzehn Jahre zurück und gilt unter Experten als äußerst ungenau. Den Daten der Volkszählung zufolge lebten 1991 ca. 1,2 Millionen Adivasis in Bangladesch. Durch die Forschungs-Arbeit verschiedner Nichtregierungsorganisationen (NRO) kann man jedoch ohne weiteres von einer Gesamtzahl von mindestens 2 Millionen Adivasis ausgehen. Die im Nordwesten Bangladeschs tätige Organisation Ashrai (übersetzt: Obdach), schätzt die Zahl der Adivasi in ihrem Arbeitsbereich auf mehr als 500.000.
Bereits die Diskussion um die Zahl der in Bangladesch lebenden Adivasi zeigt eines der Hauptprobleme für die indigenen Minderheiten in Bangladesch auf; die fehlende formelle, in der Verfassung verankerte Annerkennung als indigene Minderheiten innerhalb Bangladeschs, deren Rechte und Traditionen es zu schützen gilt. Sobald der Staat ihnen diesen Status einräumt, wird es schwieriger für ihn, aber auch für viele Bangladeschis, die Adivasi auszubeuten und ihrer traditionellen Rechte und Lebensart zu berauben. Um einen kurzen Überblick über die schwierige Situation der Adivasi als ethnische und religiöse Minderheit in der muslimisch geprägten Gesellschaft zu geben, werde ich im Folgenden einige der größten Probleme der Adivasi aufzählen. Diesbezüglich lege ich den Schwerpunkt auf die Adivasi im Nordwesten Bangladeschs, da ich in dieser Gegend mit Ashrai arbeite.
Im Gegensatz zu den Adivasi im Osten Bangladeschs, vor allem in den Chittagong Hill Tracts (CHT), sind die Adivasi im Nordwesten nur sehr schwach organisiert und haben auf nationaler Ebene so gut wie keine Lobby. Während die Adivasi in den CHT in den letzten zwei Jahrezehnten teilweise sogar einen bewaffneten Kampf für ihre Rechte, gegen Landraub und für mehr Selbstverwaltung, geführt haben, verhalten sich die Adivasi im Nordwesten eher zurückhaltender. Die Gründe dafür sind sehr vielseitig. Zum Einen ist die Analphabetenquote der Adivasi im Nordosten in den meisten Gebieten über neunzig Prozent, weshalb nur wenige von ihnen auf politischer oder zivilgesellschaftlicher Ebene in Führungspositionen kommen können. Des Weiteren lässt die geografische Situation im Nordosten eine gewaltsame Auflehnung gegen die Unterdrückung und für Zugeständnisse der Regierung nicht zu. Die CHT sind ein bergiges Terrain, in dem das bangladeschische Militär nur äußerst mühsam operieren kann. Der eher flache Nordwesten hingegen ist einfacher zu kontrollieren. Zudem leben die Adivasi hier sehr zerstreut in einer Vielzahl kleiner Gemeinschaften inmitten der bangladeschischen mainstream Gesellschaft, was eine Organisation der Adivasi zusätzlich erschwert.
Adivasi leben in der Regel auf Regierungsland (Khas-Land), das für eine geringe Entschädigung für neunundneunzig Jahre von dem jeweiligen Bezirksbüro für Landvergabe geleast werden kann. Landlose und Adivasi haben ein Vorrecht das Khas-Land zu leasen. Aufgrund des hohen Analphabetentums, aber auch durch die Tatsache, dass schon viele Generationen von Adivasi auf dem Land gelebt haben, wissen nur wenige von ihnen, dass sie ihren Landbesitz registrieren lassen müssen / können, um in den Besitz von Papieren zu kommen. Dies zeigt sich als fatale Entwicklung, da es gegenwärtig kaum noch Adivasi gibt, die im Besitz von Land zur Bewirtschaftung sind. Häufig gehört ihnen noch nicht einmal mehr das Land, auf dem sie leben. Die Verantwortlichen in den Kreis- und Bezirksverwaltungen haben nur wenig Interesse die Landrechte der Adivasi zu wahren, da sie oft selbst an der Verleihung von Khas-Land an Bangladeschis, die kein Vorrecht haben, mitverdienen.
Die geschilderte Situation wird momentan noch dadurch verschärft, dass die Adivasi auf die gleiche Art und Weise nun auch ihrer Friedhöfe beraubt werden, da diese in der Regel ebenfalls auf Khas-Land liegen. Die Folge der oben erwähnten Diskriminierung ist, dass über neunzig Prozent der Adivasi von Tagelöhnerei, vor allem in der Landwirtschaft, leben müssen. Ihre Existenz ist deshalb besonders anfällig für Naturkatastrophen wie Überflutungen oder Dürren, da sie häufig ausschließlich von Arbeitsmöglichkeiten auf den Feldern abhängig sind.
Eine andere Form der Benachteiligung wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wo die Dörfer der Adivasi liegen. Sie sind selten an das asphaltierte Straßennetz und die Stromversorgung angeschlossen. Dies führt dazu, dass sie bei starken Regenfällen nicht mit motorisierten Fahrzeugen erreichbar und somit weitestgehend von der Außenwelt abgeschlossen sind.
Hinsichtlich ihrer sozialen Integration in die bangladeschische Gesellschaft sind ebenfalls eine Fülle von Diskriminierungen zu beobachten. Obwohl viele Muslime die ausgelassenen, oft religiösen Feste der Adivasi gerne Besuchen, kommen sie meistens erst nach Einbruch der Dunkelheit dazu, um nicht von ihren muslimischen Nachbarn gesehen zu werden. Viele Bangladeschis erkennen die Adivasi nicht als Ureinwohner ihres Landes an. Ebenso wenig respektieren sie den Beitrag der Adivasi für Bangladesch während des Unabhängigkeitskrieges von 1971. Sie schauen vielmehr auf die Adivasi herab, die aus ihrer Sicht als rückständig gelten, da sie häufig noch einer Art Naturglauben (Animismus) anhängen und unter Muslimen verpönte Speisen und Getränke wie Schweinefleisch und Alkohol zu sich nehmen.
Leider gibt es auch unter den Adivasi-Gemeinschaften elitäre Strömungen. So schauen die zum Christentum bekehrten Adivasi oft auf die noch immer einem animistischen Glauben anhängenden Indigenen herab. Andersherum verachten die Letztgenannten die Ersteren, da diese aus ihrer Sicht ihren Glauben sozusagen an die Missionare verkauft haben. Den westlichen Missionaren gelang es viele Adivasi zum christlichen Glauben zu bekehren, da die Kirchen ihnen bessere Ausbildungsmöglichkeiten sowie für ihre Verhältnisse großzügige finanzielle Unterstützung angeboten haben. Obwohl die Adivasi jegliche Form von Unterstützung gebrauchen können, muss hier festgestellt werden, dass viele konvertierte Adivasi große Teile ihrer indigenen Identität aufgegeben haben. Die Identitätsfrage ist besonders für die Adivasis im Nordwesten Bangladeschs ein großes Problem. Sie sehen sich aus sozioökonomischen Gründen zunehmend gezwungen, ihre Identität Stück für Stück aufzugeben und sich in die bangladeschische mainstream Gesellschaft zu integrieren. Die Adivasi in meinem Arbeitsgebiet sprechen ihre Muttersprache fast nur noch innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft und sprechen inzwischen auch untereinander außerhalb ihrer Dörfer meistens nur noch in Bangla miteinander.
Adivasi sind mittlerweile Fremde in ihrem eigenem Land.