Fortbildung nach bengalischer Art
Ab heute nehme ich an einem zweitägigen Training für das Personal des NETZ-Projektes "Ein Leben lang genug Reis" teil. Den Mitarbeitern wird ein Fragebogen erläutert, mit dem sie später die an dem Projekt teilnehmenden Haushalte detailliert dokumentieren können. Ihnen wird sowohl der Fragebogen genausten erklärt, als auch alles Weitere, was sie bei den Befragungen beachten müssen.
Der Fragebogen befasst sich zunächst einmal mit jedem Haushaltsmitglied der Projektfamilien. Es wird danach gefragt, wie viele Mitglieder der Haushalt hat, in welchem Familienstand sie sich befinden, welche Schulbildung sie erhalten haben, ob sie ein Einkommen erzielen, von einem staatlichen Sicherungssystemen profitieren, ob sie Lesen und Schreiben können oder ob ein Familienmitglied eine körperliche Einschränkung hat.
Im nächsten Teil des Fragebogens wird nach der Religionszugehörigkeit der Familien gefragt. Dieser Punkt ist für das Projekt besonders wichtig, da es vor allem marginalisierten Minderheiten in Bangladesch helfen soll.
Weiter geht es mit praktischen Informationen zu den Lebensumständen der Familien. In welchem Zustand befinden sich ihre Hütten, wie viel Land besitzen sie - vor allem wie sind die Eigentumsverhältnisse geregelt, wie ist die hygienische Situation und ob die Familie über eine Latrine verfügt. Es wird nach dem Zugang zu Trinkwasser gefragt und ob es Zugang zu Elektrizität gibt.
Im Folgenden sollen die Mitarbeiter nach allen relevanten Besitztümern fragen. Besitztümer sind unter anderem Nutztiere, es geht um Rikschas, Handarbeits- und landwirtschaftliche Geräte. Es wird auch nach für uns selbstverständlichen Dingen wie zum Beispiel Betten, Matratzen, Decken, Schränken, Stühlen, Mobiltelefonen und Schmuck (Gold und Silber) gefragt.
Im weiteren Verlauf geht es um Einnahmen und Ausgaben des Haushaltes. Diese Punkte werden ebenso genau abgefragt wie die Besitztümer. Hat eine Familie Geld durch zum Beispiel Fischen, ihre Ernte, Betteln oder Kinderarbeit eingenommen. Wurde das Geld für Reis, Fleisch, Früchte, Hochzeiten, Hygieneartikel oder beispielsweise Kleidung ausgegeben. Für beide Fragen gibt es zirka vierzig verschiedene Antwortmöglichkeiten.
Zum Abschluss sollen die Projektmitarbeiter nach der Anzahl der Mahlzeiten fragen und einige Fragen direkt an die Frauen des Haushaltes richten, welche auch die eigentlichen Teilnehmerinnen des NETZ-Projektes sind.
Das Training findet in einem kleinen Trainingsraum statt, der in der gleichen Stadt wie das Projektbüro liegt. Die Teilnehmenden sitzen dicht gedrängt auf Holzstühlen und hören aufmerksam den Vorträgen, welche von zwei extra für das Training angereisten NETZ Mitarbeitern gehalten werden, zu. Wie immer in Bangladesch, muss auch dieses Mal die Vortragslautstärke den Ventilatorengeräuschen angepasst werden. Sofern denn der Strom nicht ausfällt.
Wie schon bei vorherigen Trainings an denen ich teilgenommen habe, fällt erneut auf, dass sich die Methoden des Trainings und auch die Art der Beteiligung der Teilnehmer, stark von unseren deutschen unterscheiden. Die beiden Referenten lassen die wichtigsten Punkte vom Chor der Teilnehmer regelmäßig wiederholen. Es werden einzelne Punkte ausführlich ausdiskutiert, immer wieder schalten sich neue Personen in die Diskussion ein. So werden für einen einzelnen Punkt des Fragebogen meist mehrere Minuten bis hin zu einer halben Stunde benötigt. Nebenbei werden die wichtigsten Stichworte auf einer Tafel festgehalten, zu meiner großen Verwunderung auf Englisch.
Als der Fragebogen komplett besprochen ist, wird ein Pärchen gesucht, dass beispielhaft eine Befragungssituation darstellen soll. Einer der beiden spielt den Projektmitarbeiter und der Zweite eine Projektteilnehmerin. Die übrigen Teilnehmer beobachten und machen sich Notizen.
Am zweiten Tag des Trainings fahren wir zu einer praktischen Einheit in ein Dorf in der Nähe des Trainingsortes. Die Teilnehmerinnen werden auf zwei kleine Busse und die meisten Männer auf Motorräder verteilt. Auf geht es, mit diesen nicht ganz geländetauglichen Gefährten, über Sandpisten in ein Dorf.
Im Dorf angekommen werde ich zunächst von einer Horde Frauen in ein Haus gezogen. Auf einem Stuhl auf der Veranda sitzend, beginnen sie mich auszufragen. Wie heißt du? Woher kommst du? Was machst du hier in Bangladesch? Und wo wohnst du? Bist du verheiratet? Heiratest du einen bengalischen Mann? Mir wird ein Kind entgegengehalten und wie schon einige Male zuvor werde ich gefragt, ob ich das Kind nicht mit nach Deutschland nehmen könnte. Ich antworte der Frau auf Bengalisch, dass es in Deutschland sehr kalt ist und das Kind seine Mutter vermissen würde. Zum Glück führt diese Antwort meistens zu freundlichem Kichern unter den Frauen und man nimmt das Kind wieder zurück.
In diesem Moment taucht einer der Projektmitarbeiter auf. Sichtbar glücklich, mich endlich gefunden zu haben, drängt er sich durch die Menge und nimmt mich mit zu einer Hütte. Dort probiert eine der Trainingsgruppe ihre neu erworbenen Kenntnisse und den Fragebogen aus.
Ich stehe mit dem Mitarbeiter am Rand und beobachte die Situation. Zunächst bemerken mich der Mann und die Frau nicht, die gerade befragt werden. Erst als es um uns herum immer lauter wird, bemerken die beiden mich und ich, dass sich inzwischen zahlreiche Dorfbewohner eingefunden haben, um mich zu beobachten.
Wir verlassen die Hütte wieder und laufen weiter zur Nächsten, in der eine weitere Trainingsgruppe sitzt. Natürlich kommen auch meine Beobachter mit. Bei der nächsten Familie angekommen, lassen sich meine Beobachter leider nicht von den freundlichen Bitten meiner Kollegen, doch bitte nicht mit in den Hof zu kommen, aufhalten. Immer mehr Leute drängen sich in den Innenhof. Da es der Projektteilnehmerin sichtbar unangenehm ist, vor allen Nachbarn von ihren Problemen zu erzählen, werde ich kurzer Hand mit einem Plastikstuhl auf die Straße gesetzt.
Der Plan geht auf und alle Leute die nicht zur Familie gehören, folgen mir und stellen sich im Kreis um mich herum auf. Nach anfänglicher Schüchternheit, beginnt einer der Dorfbewohner mit der üblichen Fragerunde.
Die Nachricht von einer ausländischen Dorfbesucherin scheint sich schnell herumgesprochen zu haben. Das Gedränge um mich - noch immer auf dem Stuhl sitzend - wird dichter und die kleineren Jungs fangen an sich um die guten Sehplätze zu streiten. Zum Glück bemerkt einer meiner Kollegen die Situation, ich werde aus dem zwischenzeitlich etwas beängstigend gewordenen Gedränge heraus geholt.
Da wir beide einsehen müssen, dass es keinen Sinn macht wieder zu einer Hütte zu gehen, machen wir uns mit ein paar Verfolgern auf den Weg durchs Dorf, zurück zum Auto.
Am Auto angekommen, tauchen auch schon die ersten Trainingsteilnehmer, die ihren Praxistest erfolgreich beendet haben, auf. Mit in ihrem Gefolge befindet sich ein älterer Mann, der sofort zu mir kommt und mir von der Situation der armen Menschen im Dorf berichtet. Abschließend bittet er mich um ausreichend US-Dollar für die 200 Familien des Dorfes. Ein wenig erschrocken, versuche ich ihm zu erklären, dass ich nur Studentin bin und für meine Arbeit hier in Bangladesch keinen Lohn bekomme. Er scheint nicht ganz zu verstehen, warum ich ihm nichts gebe.
Dieses Mal ist ausgerechnet die immer größer werde Menge meine Rettung. Sie ist nicht an englischen Gesprächen interessiert, sondern will lieber mein Bengalisch testen. Zur großen Freunde der Kinder mache ich noch ein paar Fotos. Dann werde ich zurück zu den Autos gerufen.
Die Projektmitarbeiter sind fertig und wir können zur Schlussbesprechung und zum Mittagessen zurück in die Stadt fahren.