Flut ist, wenn viel Wasser kommt
Unser großes Holzboot gleitet über die ruhige Oberfläche des Jamuna, um uns nur Wasser, Wasser, Wasser. In manche Richtung sieht man kein Land. Manchmal denke ich mitten im Meer zu sein. Doch das ist ein Fluss und es ist Regenzeit in Bangladesch. In Indien hat es tagelang geregnet. Jetzt ist das Wasser in Bangladesch angekommen und hat weite Teile des Landes überflutet. Ein deutsches Filmteam dreht für das ZDF eine Dokumentation. Wir führen sie zusammen mit den Mitarbeitern lokaler NGOs zu den Chars, den Flussinseln im Jamuna, welche die Flut besonders schwer getroffen hat.
Nach knapp zwei Stunden stromabwärts tauchen aus den gewaltigen Fluten einige Wellblech-Dächer auf. Das ist der Rest eines Dorfes. Die Hütten aus Lehm und Bambus haben die Fluten erdrückt oder weggespült. Kein Mensch weit und breit. Nur das Gurgeln des Dieselmotors und der Widerhall auf dem Wasser. Eine Gespensterstadt. In der Ferne ragt der aus Beton gebaute Flutschutzbau aus dem Wasser. Seine Stelzen stehen unter Wasser, er scheint auf dem Fluss zu schwimmen. Darin die Menschen, die in diesem Dorf lebten. Es gibt einige wenige Räume für die gesamte Dorfbevölkerung. In einem Zimmer schlafen mehrere Familien, kochen, waschen - Aufenthaltsort für die Erwachsenen, Spielzimmer für die Kinder, Stall für Ziegen und Hühner. Es ist heiß. Die Menschen haben nichts zu tun, außer zu warten, dass die Flut zurückgeht und zu schauen, was sie von ihrem Dorf übrig gelassen hat. Es gibt nicht sehr viel zu essen. Reis, etwas Fisch, getrocknete Linsen. Viele Frauen sind allein hier mit den Kindern und den Alten. Die Männer sind auf dem Festland, auf der Suche nach Arbeit. Die Frauen warten.
Wir fahren weiter stromabwärts. Ein weiteres Dorf hat die Flut weggespült. Habib, Direktor einen lokalen NGO deutet auf den Fluss. "Hier war ein großes Dorf", sagt er. Nichts ist davon mehr zu sehen. Nicht einmal die Bananenstauden schauen noch aus dem Wasser. Eine der Inseln schaut noch wenige Zentimeter aus dem Wasser - der Teil, der nicht weggeschwemmt wurde. Die Bäume sind umgeknickt, Latrinen weggespült, die Schule steht unter Wasser. Das ganze Dorf ist auf den Beinen. Sie laden alles, was nicht zerstört wurde auf zwei große Holzboote. Die Männer bauen die Hütten ab. Wellblech, Bambusstangen, die Lehmöfen - daraus werden sie sich an einem anderen Ort eine neue Bleibe aufbauen. Die Frauen treiben die Tiere zusammen, das wenige Geschirr, ein paar heil gebliebene Bäume werden ausgegraben. Sie werden alle auf den Damm am weit entfernten Ufer gehen, dort einige Monate ausharren und schauen, wo ihnen der Fluss eine neue Inseln angespült hat. Dort werden sie bleiben bis zur nächsten großen Flut.
"Wir waren nur drei Regenzeiten hier," erzählt ein junger Familienvater. Das ist nicht lang. Früher konnten sie vielleicht zehn Jahre bleiben, oder länger. Nach der Flut 2001 waren sie hierher gekommen, doch nun ist auch mit diesem neuen Dorf schon wieder schluss. Ich frage ihn, woher diese Flut kommt. Was weiß er über die Gründe? Hat er Vermutungen, warum die Flut immer öfter kommt? "Flut", sagt er, "ist wenn viel Wasser kommt". Eine logische Erklärung. Ich frage weiter, warum soviel Wasser kommt. Der Mann zeigt auf den Himmel. "Das weiß nur Allah", sagt er.
Die letzten Tage haben sie auf dem Dach der Schule verbracht. "Gestern hätten Sie hier sehen können, wie die Häuser weggeschwemmt werden", sagt er mir. Sie sind einfach weg geschwommen und die Menschen konnten sie nicht retten. Ob er nicht manchmal träumt von hier fortzugehen, möchte ich wissen. Manche Männer arbeiten in anderen Städten, sagt er. Aber er hat kein Geld, sich für die Familie anderswo eine neue Existenz aufzubauen. Er bleibt hier, mitten im Fluss, und wird sein Glück mit einem neuen Haus versuchen.
Als wir auf die Chars in Gaibandha kommen, hat sich die Flut dort schon um etwa einen Meter zurückgezogen. Auch hier hat sie Land fortgerissen und Häuser zerstört. Auf Mullah Char verteilen wir die Notpakete an die Ärmsten: Reis, Linsen, Öl, Salz, Zucker, Babynahrung, Kerzen und Streichhölzer. Die Menschen warten geduldig stundenlang. Manche der alten Frauen können ihr Packet selbst nicht mehr tragen. Bei einem Health Camp warten zwei oder dreihundert Menschen auf Hilfe durch den Arzt. Viele Kinder haben Durchfall, Hautkrankheiten, auch Lungenentzündungen werden häufiger. Hier können sie eine erste Hilfe erhalten. Für die schlimmen Fälle jedoch sind die mobilen Ärzte nicht genug. Ich spreche mit einer Großmutter, die ihren zweijährigen Enkel auf dem Arm hält. Er ist kleiner als die sieben Monate alte Tochter meiner Freundin in Deutschland. Seine Haut ist übersäht mit kleinen roten Punkten. Er hat Gelbsucht. Über die Krankheit hinter diesem Symptom weiß die Mutter nichts. Der Kopf des Kleinen ist seltsam gewölbt. Der Druck im Schädel des Babys scheint zu hoch zu sein, aber auch über die Gründe für den Wasserkopf des Kindes weiß die Mutter nichts. Die Großmutter erzählt mir, dass sie noch nie in einem Krankenhaus waren. Sie kennt das nächste Krankenhaus nicht.
Das Wasser auf Khudda Char im Tista, wo ich die alte Frau treffe, hat sich zurückgezogen und die Menschen haben sich wieder in ihre Hütten begeben. Jetzt beginnt eine harte Zeit: wenig Nahrung, keine Arbeit. Und die Flut kann jederzeit wiederkommen. Das Gespräch mit der Großmutter zeigt mir eines wieder deutlich: Die Flut hat viele Menschen hart getroffen. Besonders hart triff sie diejenigen, die schon bei normalen Verhältnissen von der Hand in den Mund leben. Kinder, die sonst gesund sind, treffen die schwierigen Bedingungen während einer Flut nicht so stark. Menschen, die sonst genug zu essen haben, ein Einkommen haben und vielleicht ein stabileres Haus bauen können, kann eine Überschwemmung nicht so viel anhaben. Aber die ärmsten der Armen sind ihr schutzlos ausgeliefert.