Farblose, bunte Hunde und eine Staude Bananen
Die Uhr auf meinem Laptop zeigt 11:49 Uhr. Es klopft an meiner Zimmertür. Nachdem ich die vergangenen zwei Tage in Chuadanga, einem Distrikt im Süden Bangladeschs, ein Projekt besucht habe, wurde mir heute ein Tag Pause verschrieben. Eigentlich wollte ich in das nahe gelegene Büro gehen, um dort zu arbeiten. Doch der für mich zuständige Mitarbeiter bei meiner Partnerorganisation Jagorani Chakra Foundation (JCF) sagte mir, dass ich lieber erstmal ausschlafen solle. Dann könne ich ja immer noch ins Büro kommen und meinen Schreibkram erledigen, wenn ich das nicht in meinem Gästezimmer machen möchte.
Seit 8 Uhr bin ich also wach und ganz gemütlich aufgestanden, bis es um 9 Uhr zum ersten Mal an meiner Tür klopft! Ah, das Frühstück! In dem Gebäude direkt nebenan ist ein Restaurant, das von Frauen aus einem der JCF-Projekte betrieben wird. Eigentlich könnte ich ja auch schnell runter gehen und dort meine morgendlichen Rutis mit scharfem Gemüse und Dal zum Frühstück verdrücken. Aber so läuft das hier nicht! Mir wird das Frühstück von einem der Wächter direkt ins Zimmer gebracht. Ob das eigentlich seine Aufgabe ist? Keine Ahnung, jedenfalls wurde er von JCF beauftragt das zu tun und er scheint sich sehr darüber zu freuen mir Dinge bringen zu dürfen. Als ich ihn mit dem üblichen "Assalamu oalaikum" begrüße, lächelt er mich freundlich an und erwidert den Gruß.
Ausländer in Bangladesch zu sein ist etwas sehr gewöhnungsbedürftiges. Man fällt überall auf, wird zuvorkommend und überaus freundlich behandelt. Das sind beides Dinge, die ich so aus Deutschland gar nicht kenne. Freundliche Menschen zu finden ist an manchen Tagen wirklich Glückssache und auffallen würde man in der anonymen Masse einer deutschen Großstadt nicht einmal als bunter Hund. Hier reicht es gar keine richtige Farbe zu haben.
Warum das so ist? Darauf eine Antwort zu finden ist eigentlich recht einfach. Das fast komplett von Indien umgebene Land ist wirtschaftlich nicht besonders interessant für die Global Players, sieht man mal von der Textilindustrie und der Teeproduktion ab, deren Exportmarkt sich bisher fast ausschließlich durch Staaten in der näheren Umgebung erschließt. Viele Ausländer werden von der Wirtschaft also nicht ins Land gelockt. Auch Tourismus spielt in Bangladesch so gut wie gar keine Rolle. Zwar gibt es durchaus sehenswerte Seiten, die Sandstrände von Cox's Bazar oder die Mangrovenwälder der Sundarbans, in denen der bengalische Tiger beheimatet ist, zum Beispiel. Allerdings dienen sie eher der einheimischen Bevölkerung als Urlaubsziele. Abgesehen von einigen Staatsbediensteten und vereinzelten Vertretern der Wirtschaft, trifft man in Bangladesch also auf auffallend wenige Ausländer. Die meisten von ihnen sind wahrscheinlich dem NGO-Sektor oder allgemein der Entwicklungszusammenarbeit zuzuordnen.
Klopf, Klopf, Klopf: Der Wächter hat gemerkt, dass ich mit meinem Frühstück fertig bin und steht mit einem Kaffee vor der Tür. "Vielen Dank, das wäre wirklich nicht nötig gewesen", würde ich sagen, wenn mein Bengalisch dafür schon ausreichen würde.
Nicht nur einem selber fällt es auf, dass es kaum Ausländer in Bangladesch gibt, man selbst fällt als Ausländer auf! Das erste dies bestätigende Erlebnis hatte ich direkt nach der Ankunft in Bangladesch in der Hauptstadt Dhaka: Völlig benebelt von der langen Reise und der neuen Umgebung sitze ich links auf dem Beifahrersitz unseres Busses und schaue verträumt in vorbeifahrende Autos. Mein Blick fällt auf die Rückbank eines Wagens, auf dem sich fünf Kinder tummeln. Auf einmal erblickt mich eines von ihnen, ein vielleicht 6-jähriges Mädchen, und ist total aufgeregt. Mit weit aufgerissenen Augen ruft sie den anderen etwas zu und zeigt mit dem Finger auf unser Auto. Es dauert keine zwei Sekunden, da kleben vier weitere Kinderaugenpaare an der Scheibe und schauen aufgeregt in den Bus gegenüber, der scheinbar mit Aliens gefüllt ist und einem Ufo gleicht.
Klopf, Klopf, Klopf: Der zuvorkommende Wächter steht mit einer Flasche Wasser vor der Tür. Vielen Dank!
Im Alltag äußert sich dieses "anders sein" dann oft in nach deutschen Maßstäben absurden Situationen. Nicht nur, dass man auf der Straße permanent von zig Menschen begutachtet wird, auch an die Rufe aus vorbeifahrenden Rikschas oder das häufige Angesprochen werden auf der Straße muss man sich gewöhnen. Eine Alltagssituation: Ich stehe am Straßenrand und warte darauf, dass eine Rikscha vorbeikommt. Ein Mann auf der anderen Straßenseite sieht mich. Sein Blick verrät Unentschlossenheit, ein bisschen Schüchternheit, aber auch brennende Neugier. Also gibt er sich einen Ruck und kommt herüber.
Mann: "Hallo. Wie geht es Ihnen?"
Kai: "Mir geht es gut. Vielen Dank."
Mann: "Woher kommen Sie?"
Kai: "Aus Deutschland!"
Scheinbar waren das alle Informationen die er wollte, denn sichtlich zufrieden geht er einfach weg.
Nach der obligatorischen Frage nach meiner Herkunft kann sich dieser Dialog dann aber auch noch um diese beiden Variationen erweitern.
Variante 1:
Mann: "Ooooh, Japan! Ein schönes Land!" (Für viele Gesprächspartner ähnelt das Englische "Germany" für Deutschland dem Wort für Japan)
Kai: "Nein, aus Deutschland komme ich und nicht aus Japan!"
Mann: "Ja, ja aus Japan!"
Kai (gleichzeitig seufzend und leicht grinsend): "Ähm!? Okay, Danke schön."
Variante 2:
Mann: "Aaah, Deutschland. Ein schönes Land. Hitler war ein großer Anführer!"
Kai: "Öhhh!?" Und sagt dann resignierend einfach gar nichts, weil er inzwischen weiß, dass solche Diskussionen auf der Straße leider völlig zwecklos sind.
Variante drei gefällt mir dann doch am Besten, die habe ich allerdings erst zwei Mal erleben dürfen. Das erste Mal war während eines Tagesausflugs nach Old Dhaka. Wir, drei andere Freiwillige und ich, schlendern gerade über den Shankharia Bazar, eine schmale Straße, die auch als Hindustraße bekannt ist und durch Architektur und viele kleine Läden wirklich sehenswert ist. Unsere Aufmerksamkeit wird von einem Geschäft geweckt, in dem sehr einfache selbst gebastelte Flugdrachen verkauft werden. Nachdem wir uns entschlossen haben für jeden einen mitzunehmen, kommt auch von dem Verkäufer die obligatorische Frage nach unserer Herkunft. Seine Reaktion auf unsere ebenso obligatorische Antwort ruft bei mir allerdings ein spontanes Lächeln hervor, das ich noch einige Zeit behalten werde: "Aaaaah, Michael Ballack! Deutschland hat eine gute Fußballmannschaft!".
Kopf, Klopf, Klopf... Klopf, Klopf, Klopf... Klopf, Klopf, Klopf: Na sowas, der nette Wächter steht ja schon wieder vor der Tür. Diesmal bringt mir vier Packungen Kekse und eine halbe Staude Bananen. Ich hab doch gestern erst eine halbe Staude bekommen, wer soll denn das alles essen?
Ein wenig absurd fühlte es sich dann allerdings schon an, als ich einem meiner Mitarbeiter, Malek, bei JCF vorgestellt werde und er mich darauf aufmerksam macht, dass ich aussehe wie Michael Ballack. Naja, immerhin ist seine erste Assoziation mit Deutschland nicht die vorher erwähnte berühmte Persönlichkeit unseres Landes. Das hätte mich dann doch in arge Bedrängnis gebracht. Mit ihm erlebe ich dann auch die bisher unangenehmste Situation, in der mir besonders deutlich wird, dass ich hier scheinbar einen besonderen Status habe.
Wir sind gerade in einer Projektregion und begleiten eine Gruppe Frauen dabei, wie sie ein Training zum Bestellen ihrer Felder bekommen. Im Anschluss soll nun noch eine Theoriestunde folgen, für die wir uns allesamt vom Feld aus in ein nahes Gemeindegebäude aufmachen. Als fast alle eingetrudelt sind, fragt mich Malek nebenbei, ob ich denn schon hungrig sei, immerhin sei es doch fast Mittagszeit. "Naja, ein bisschen hungrig bin ich schon, aber das ist okay", sage ich, wohlwissend, dass nach diesem Training unser Besuch beendet sein wird und wir zurück ins Büro fahren werden, wo das Mittagessen bereits wartet. Leider muss ich feststellen, dass richtige Antwort "nein" gewesen wäre. Malek spring auf, schnellt zu seinem Motorrad, winkt mich zu sich und bevor ich überhaupt schalten kann, sind wir an der nächsten Teebude und mir werden Kekse und Bananen gereicht. Nach 20 Minuten fahren wir dann endlich wieder zurück. Das Training hat noch nicht ohne uns begonnen. Als ich dann auch noch merke, was es für eine besondere Situation es für die Frauen ist, dass ein Ausländer zu Gast ist, ist mir die ganze Situation und der Fakt, dass nur auf mich gewartet wurde, unendlich peinlich.
Klopf, Klopf, Klopf: Und wieder ist es der Wächter, diesmal mit einer weiteren Tasse Kaffee. Die kann ich gerade gut gebrauchen. Ich bedanke mich mit dem hier üblichen Kopfnicken und mache mich an mein Fazit.
In den vergangenen zwei Stunden und 49 Minuten klopft es geschlagene vier Mal und mir wurden neben dem Frühstück eine Flasche Wasser, zwei Tassen Kaffee, vier Packungen Kekse und eine halbe Staude Bananen gebracht. Gefragt habe ich nach nichts davon, aber inzwischen bin ich das fast schon gewohnt. Proteste oder Einwände gegen diese Fürsorge werden sowieso nicht akzeptiert, also muss ich mich wohl damit abfinden, dass andere Leute besser wissen, was ich brauche und was nicht. Da diese Sonderbehandlung aber ja nett, fürsorglich und Teil der scheinbar keine Grenzen kennenden Gastfreundlichkeit ist, kann ich mich mit dieser immer noch etwas befremdlichen Situation allerdings ganz gut arrangieren. Die übermäßige Aufmerksamkeit, die ich im Alltag errege ist dagegen manchmal ziemlich anstrengend, aber in solchen Situationen hilft es mir zu verdeutlichen, dass ich für die Bangladeschis nun einmal ein ziemlich bunter Hund bin und sie darum an mir interessiert sind. Genau so bin ich ja auch an ihnen und ihrem Land interessiert.