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Extreme Armut - ein Teufelskreis? (Teil 2)

Wer von uns kennt nicht das Gefühl von Nervosität. Die Gründe können facettenreich sein: vor Prüfungen, Vorstellungsgesprächen, Präsentationen, Verabredungen oder in Situationen der Ungewissheit. Sorgen oder Gedanken, die einen beschäftigen, sich einem ins Hirn fressen und sämtliche andere Gedankengänge lahm legen. Der hoffnungslose Versuch des Verdrängens und das blitzartige Stechen in der Magengegend, das einen schmerzhaft daran erinnert, dass Verdrängen, wenn überhaupt, nur temporär erfolgreich ist.

Ich bin auf dem Weg nach Hasan Nagor, ein Dorf im gleichnamigen Landkreis. Ich sollte sagen, eines von zwei Dörfern von ursprünglich neun in diesem Landkreis. In den letzten Jahren hat der Meghna bereits sieben Dörfer des Landkreises geschluckt. Die Bewohner der beiden verbliebenen Dörfer können zuschauen, wie sich das Wasser Zentimeter um Zentimeter in das Land frisst und ihnen den Lebensraum nimmt. Heute werde ich meinen ersten von zahlreichen Workshops in den Dörfern mit den Armen moderieren. Atique, ein Kollege von COAST, begleitet mich. Er wird ebenso moderieren und übersetzen, was die Armen in Diskussionsrunden zu sagen haben. Ich werde so viel wie möglich Bangla reden. Doch stoße ich noch immer sehr bald an meine Grenzen. Etwa drei Stunden wird die erste Sitzung dauern. Sie dient zur Identifizierung der extrem Armen in diesem Dorf. Mit bunten Karten in allen möglichen Formen und Größen, Posterpapier und Markern bewaffnet, haben wir uns auf den Weg gemacht. Ich habe mir in den vergangenen Wochen, in denen ich mich auf die Workshops vorbereitet habe, einige Sorgen gemacht, Nervosität und Enthusiasmus haben sich regelmäßig abgewechselt. Permanent kreisten Gedanken über die Workshops in meinem Kopf umher: Werden die Armen in der Art und Weise partizipieren, wie ich es mir erhoffe? Werden sie einen ausländischen Moderator akzeptieren? Wird die Sprachbarriere nicht ein unüberwindbares Hindernis sein? Werden die Methoden greifen? Werden die Ergebnisse für die weitere Arbeit von Nutzen sein? Wird es überhaupt etwas bringen?

In einem Training, das ich in Dhaka erhalten habe, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Art der Moderation am wichtigsten sei, um das Interesse der Armen zu wecken und um dafür zu sorgen, dass dieses Interesse im Laufe des Workshops nicht verloren gehe. Man sollte generell weniger als Moderator, sondern eher als Animateur auftreten. Ich habe solche Sitzungen bei anderen Organisationen beobachtet. Generell denke ich, dass ich recht gut motivierend oder animierend auftreten kann. Die Sprachbarriere scheint mir jedoch ein unüberwindbares Hindernis, dies in der Praxis umzusetzen.

Auf dem Weg nach Hasan Nagor fällt mir eine Handlungsmaxime ein, die in Trainings zur Vorbereitung auf solche Workshops, gelehrt wird: Sei optimal ignorant und passe Ungenauigkeiten an. Das heißt: Eine Flut von Informationen wird einem in den Dörfern zur Verfügung gestellt. Hier muss man nach Möglichkeit optimal ignorant sein, sprich die Informationsmassen filtern und nur diejenigen verwenden, die dem eigenen Erkenntnisinteresse dienen. Auch erhält man von verschiedenen Stellen (arme Bevölkerung, lokale Politiker, Dorfführer) zum selben Thema Informationen, die erheblich voneinander abweichen können. Lokale Politiker wollen sich nicht die Blöße geben, dass die Versorgung der armen Bevölkerung defizitär ist, Dorfführer wollen nicht ihre Autorität untergraben sehen. Die Bevölkerung allerdings legt schonungslos offen, wo die Mängel zu finden sind, sie können jedoch auch ihre eigene Position schlechter machen als sie in Wirklichkeit ist, um eine noch bessere Versorgung durch die Entwicklungsorganisationen zu erreichen. Diesen Ungenauigkeiten sollte man durch weiteres Nachfragen näher auf den Grund gehen, sie an das eigene Erkenntnisinteresse anpassen, andere Informationen jedoch ausblenden.

Maximal 20 Personen sollten an einem Workshop teilnehmen. Zwei Tage zuvor haben mein Kollege und ich das Dorf zum ersten Mal besucht und eine Shomity(Gruppen)sprecherin von COAST gebeten, für den übernächsten Tag etwa 20 Personen des Dorfes zu organisieren, die an der ersten Sitzung teilnehmen sollen. Diese zwanzig Teilnehmerinnen sollen das gesamte Dorf repräsentieren und nach Möglichkeit die ärmsten Bewohner des Dorfes oder der Dorfgemeinschaft identifizieren. Mit diesen ärmsten Bewohnern, zumeist ausgeschlossen aus sämtlichen Entwicklungsprogrammen, werden wir dann zwei weitere Sitzungen durchführen, um herauszufinden, mit welchen Problemen sich diese extrem Armen tagtäglich konfrontiert sehen, wie sie versuchen diesen Problemen zu begegnen und welche Strategien entwickelt werden können, um diese Probleme zumindest zu minimieren oder im Idealfall ganz aus der Welt zu schaffen. Die Gruppensprecherin stellt ihre bescheidene kleine Behausung zur Verfügung, um den Workshop durchzuführen. Ich frage sie, ob es möglich sei, den Workshop unter freiem Himmel durchzuführen, wie es häufig gemacht wird. Dies sei hier nicht möglich, sagt die Gruppensprecherin zu mir. Die Gegend sei extrem konservativ, sich pro Tag drei Stunden mit fremden Männern in der Öffentlichkeit zu zeigen, sei für die Frauen nicht möglich. Die Frauen selber störe das nur wenig, sagt sie weiter, jedoch sei es von lokalen politischen und religiösen Führern des Dorfes nicht gerne gesehen, wenn sich Frauen des Dorfes mit fremden Männern in der Öffentlichkeit unterhalten würden. Ich muss es akzeptieren. Ich werfe noch einmal einen kurzen Blick in ihre Hütte. Es scheint mir recht eng zu werden mit etwa 20 Teilnehmerinnen.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht die leiseste Ahnung was mich zwei Tage später erwarten wird.

Menschenmassen kleben an der Außenwand der Hütte, versuchen durch Ritze in der Strohwand ein Blick in das Innere zu erhaschen. Zahllose Gesichter zieren die Fensterrahmen und berauben somit der einzigen Lichtquelle der Möglichkeit, dem Inneren der Hütte ein wenig Licht zu spenden. Im Zwielicht auf dem Boden der Hütte sitzend, schaue ich in die Gesichter der Frauen, die vor mit Platz genommen haben. Es ist laut und unerträglich heiß. Bis zu fünfzig Frauen haben sich in der kleinen Hütte versammelt, weitere Dutzende drängen von Außen herein, um im Inneren der Hütte nicht mehr vorhandene Plätze zu ergattern. Kinder klettern laut lachend zum Fenster in die Hütte hinein, dem nächsten Gesicht die Möglichkeit gebend, einen Blick durch das Fenster zu werfen. Lokale Führer haben sich unter die Frauen gemischt, wollen doch auch sie wissen, was ein Ausländer so wichtiges zu bereden hat. Streitigkeiten brechen aus, Frauen fangen an, sich gegenseitig zu schubsen, zahllose Babys, in den Armen ihrer Mütter liegend, schreien nach der Brust.

Mehr als einhundert Frauen sind gekommen. Natürlich hat es sich in den letzten beiden Tagen herumgesprochen, dass ein Ausländer das Dorf aufsuchen wird. Die Überzeugung, von einem Ausländer Unterstützung, finanzieller oder materieller Art, zu erhalten, hat sie hierher getrieben. Mein Kollege versucht ein wenig für Ruhe zu sorgen, betont, dass wir nicht gekommen sind, um Geschenke zu verteilen. Während er spricht, drängen immer mehr Menschen durch die Tür und die Fenster in das Innere hinein. Die Frauen, die vor mir sitzen, drängt es immer weiter in meine Richtung. Es ist eng, laut, schweißtreibend, keine Atmosphäre, um einen Workshop durchzuführen. Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen alle Neugierigen auffordern, die Hütte zu verlassen und nach Hause zu gehen.

Nach einer Weile des informellen Austausches beginnen wir unseren Workshop. Ich merke bereits sehr schnell, dass ich zwar auf Bangla einige Fragen stellen kann, jedoch selten eine eindeutige Antwort bekomme. Man muss permanent nachfragen bzw. Fragen anders formulieren, um erwünschte Informationen zu erhalten.

Die erste Sitzung dient zur Identifizierung der ärmsten Bewohner dieses Dorfes bzw. der Dorfgemeinschaft. Mein Kollege bittet mich aufzustehen und mich vor die Frauen zu stellen. Dann bittet er eine Frau aus der ersten Reihe, sich ebenfalls zu erheben und sich neben mich zu stellen. Die restlichen Frauen fragt er, ob sie irgendwelche Unterschiede zwischen mir und der Frau wahrnehmen. Ich sei reich, die Frau neben mir sei arm, ist natürlich die erste Antwort. Ich hätte schöne Zähne, die Frau neben mir schlechte, ruft eine Frau aus einer hinteren Reihe. Allgemeines Gelächter. Die Frau neben mir hält sich verlegen die Hand vor ihren Mund, muss jedoch auch lachen. Ich würde ein ordentliches Hemd und eine ordentliche Hose tragen, während die Frau neben mir lediglich einen zerrissenen Sari tragen würde, sagt eine Frau, die offensichtlich eine chronische Augenentzündung hat, werden ihr doch in den kommenden Tagen permanent die Augen tränen. Ich hätte ausreichend Geld, um aus meinem Heimatland nach Bangladesch zu kommen, während die Frau neben mir nicht einmal genug Geld habe, um sicherzustellen, drei Mahlzeiten am Tage zu haben.

Nachdem mein Kollege uns gebeten hat, wieder Platz zu nehmen, fragt er die Frauen, welche unterschiedlichen Arten von Menschen in ihrem Dorf leben, bezogen auf ihre wirtschaftlichen Kapazitäten. Wir haben ein paar wenige reiche Leute in unserem Dorf und einige die zum Mittelstand gehören, die meisten sind jedoch arm, viele sind sogar sehr arm, antworten die Frauen. Wir fragen weiter, anhand welcher Merkmale sie erkennen können, ob ein Mensch oder ein Haushalt reich, arm oder sehr arm sei.

Die Frauen reden wild durcheinander. Wir müssen für Ruhe sorgen. Dann lassen wir sie nacheinander sprechen. Anhand ihrer Behausungen können wir erkennen, ob ein Haushalt reich, arm oder sehr arm ist, sagt eine Frau, ihrem kleinen Baby die Brust gebend. Anhand ihres Bildungsstands, der Höhe des Einkommens, der medizinischen Versorgung, der Menge an Land, die ein Haushalt besitzt, sind weitere Antworten. Mittlerweile reden wieder alle durcheinander.

Wir sind natürlich besonders an der Kategorie sehr arm interessiert, kann diese Kategorie doch als Synonym für extrem arm angesehen werden. Für diese Kategorie geben die Frauen folgende Antworten: Sehr arme Menschen haben kein eigenes Land, betteln oder arbeiten als schlecht bezahlte Tagelöhner, erhalten keine medizinische Versorgung oder Grundbildung, haben kein sauberes Trinkwasser, sondern trinken verschmutztes Flusswasser, haben armselige Behausungen, die keinen Schutz bieten, oftmals lediglich bestehend aus Bananen- oder Palmenblättern, haben keine Toiletten und haben lediglich zerrissene Kleidung, die kaum ihre gesamten Körper bedecken.

Mit einer einfachen Methode identifizieren die Frauen 135 Haushalte in ihrem Dorf, im Durchschnitt besteht ein Haushalt aus sieben Personen. Wir bitten die Frauen nun diese Haushalte den entsprechenden Kategorien reich, Mittelstand, arm und sehr arm zuzuordnen. Die Frauen ordnen zunächst 70 der 135 Haushalte der Kategorie sehr arm zu. Zu viele, wie uns scheint, und tatsächlich entwickeln sich heftige Diskussionen, da einige Frauen andere beschuldigen, ihren eigenen Haushalt oder befreundete Haushalte ärmer zu machen als sie in Wirklichkeit sind. Solche Diskussionen sind jedoch beabsichtigt und hilfreich, um letztlich die wirklich extrem Armen zu identifizieren. Schließlich bleiben 20 Haushalte übrig, die als sehr arm bezeichnet werden können. Einige von diesen Haushalten werden wir besuchen, um aus diesen extrem armen Haushalten eine neue Gruppe zu formieren, die an der zweiten und dritten Sitzung teilnehmen werden. Wer sind nun diese sehr armen oder extrem armen Menschen? Welche Überlebensstrategien entwickeln diese Menschen, wenn sie keine Einkommensquelle haben?

Es stellt sich heraus, dass dies zum einen Haushalte sind, die von Witwen geführt werden, denen mit dem Tod ihres Mannes die einzige Einkommensquelle weggebrochen ist. Haushalte können als extrem arm bezeichnet werden, wenn der Mann körperlich behindert kaum eine Möglichkeit hat, einer einkommensschaffenden Tätigkeit nachzugehen. Alte Menschen, die auf sich allein gestellt sind und die physisch zu schwach sind, regelmäßig ihre ärmlichen Behausungen zu verlassen, um ein paar Taka zu erbetteln. Menschen, die nicht ausreichend zu essen haben und lediglich Flusswasser zu sich nehmen, um den Magen zu füllen und den Tag mehr oder weniger schlafend verbringen, um dem Hungergefühl zu entgehen. Menschen, die für reichere Haushalte kleine Tätigkeiten ausführen und als Gegenleistung die Reste des Essens des reicheren Haushalts bekommen. Menschen, die sich keine Art von medizinischer Behandlung leisten können und für die - aufgrund ihrer schwachen Physik - Fieber, Erkältung und Durchfall bereits lebensbedrohliche Krankheiten darstellen können. Menschen, deren Land erodiert ist und die nicht die Mittel haben neues Land zu kaufen und sich somit in unmittelbarer Nähe zum Fluss aus Stroh und Palmenblättern notdürftige Behausungen bauen. Diese extrem armen Menschen - vor allem extrem arme Frauen - sind auch meistens die Opfer von Verbrechen und Vergewaltigungen, da sie nicht die finanziellen Mittel haben ihre Peiniger zu verklagen. Um eine Klage einzureichen, so berichten uns die Frauen, bedarf es der Zahlung eines Bestechungsgeldes. Diese finanziellen Kapazitäten stehen den (extrem) Armen nicht zur Verfügung.

Dies sind Menschen, mit denen ich in den nächsten Tagen arbeiten werde. Sie werden an zwei weiteren Sitzungen des Workshops teilnehmen. Es wird sich herausstellen, dass die Durchführung eines solchen Workshops mit extrem Armen deutlich schwieriger ist als mit moderat Armen. Moderat Arme, die meistens an nicht-staatlichen Entwicklungsprogrammen teilnehmen, haben oftmals eine Grundbildung erhalten und sind daher in der Lage ein Verständnis für "komplexe" Zusammenhänge zu entwickeln. An diesem Verständnis mangelt es den extrem Armen, was dazu führt, dass einige Methoden, die ich während des Workshops anwenden werde, schwieriger durchzuführen sind. Auch sollten im Idealfall die Teilnehmerinnen, die während eines solchen Workshops erstellten Poster, selbständig anfertigen. Jedoch wird sich herausstellen, dass keine der ausgewählten Teilnehmerinnen lesen oder schreiben kann. Eine Frau, die an einem Entwicklungsprogramm von COAST teilnimmt und das Privileg hatte, zur Grundschule gehen zu können, erstellt die Poster für die extrem Armen. Ich nehme mir vor, für weitere Workshops dieser Art, die ich Ende Juli in einer anderen Region Bangladeschs durchführen werde, mehr mit Bildern zu arbeiten.

Ich muss an die Sorgen denken, die ich mir vor der Durchführung dieses ersten Workshops gemacht hatte. Wie klein und unbedeutend mir diese Sorgen nun vorkommen. Es sind Sorgen, die nicht wert sind, gemacht zu werden, vergleicht man sie mit den Sorgen dieser Menschen.

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