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Extreme Armut - ein Teufelskreis? (Teil 1)

Bangladesch ist nicht nur das dichtbesiedeltste Land der Welt, auch die Anzahl an nicht-staatlichen Entwicklungsorganisationen, die hier ein Betätigungsfeld gefunden haben, ist im Verhältnis zur Fläche des Landes so hoch wie in keinem anderen Land der Welt. Man kann sich sicher sein, dass selbst auf den abgelegensten Inseln und Dörfern wenigstens eine nicht-staatliche Entwicklungsorganisation arbeitet. Eigentlich sollte solch eine Präsenz auch den letzten Armen in irgendeiner Weise durch Entwicklungsprogramme helfen. Weit gefehlt! Nur wenige nicht-staatliche Entwicklungsorganisationen arbeiten mit den extrem Armen zusammen. Menschen, deren Armut nur noch in mit der Nahrung aufgenommene Kalorien pro Tag erfasst werden kann, denn sie haben kein Einkommen. Warum wollen nur eine handvoll Entwicklungsorganisationen, unter ihnen NETZ e.V., sie auf ihren Weg aus der Armut begleiten? Weil die extrem Armen angeblich ein zu hohes Risiko bei der Kreditvergabe darstellen. Können sie das Geld nicht zurückzahlen, gefährden sie die finanzielle Überlebensfähigkeit der Entwicklungsorganisationen. Zugegeben, dies bedarf einer näheren Erklärung:
Bangladesch ist das Mutterland des so genannten Mikrokredits. Diese Klein- und Kleinstkredite werden an Frauen vergeben, die in Gruppen zu etwa 15 bis 25 Personen organisiert werden. Der Kredit wird der Gruppe ausgehändigt, gemeinsam haften die Frauen dafür, die wöchentlichen Tilgungsraten zurückzuzahlen. Die Frauen beobachten sich gegenseitig, wie sie mit ihrem jeweiligen Anteil haushalten und ob dieser gewinnbringend angelegt wird - ob er in einkommensschaffende Maßnahmen investiert wird oder lediglich dazu dient, eine fällige Mitgift zu zahlen. Meistens werden die Kredite dazu genutzt, sich eine Ziege oder Kuh anzuschaffen, eine Geflügel- oder Fischzucht aufzubauen, Fischernetze oder sonstige Utensilien zu kaufen, einen Gemüsegarten anzulegen oder ein kleines Geschäft zu eröffnen. Der Gruppendruck dient also als Instrument, um erhaltene Kredite sinnvoll anzulegen. Dieses Mikrokreditprogramm wurde ab Mitte der 1970er Jahre von einem bangladeschischen Wirtschaftswissenschaftler systematisch verbreitet und erfährt seitdem einen Siegeszug, der seines Gleichen sucht. Weltweit wird das bangladeschische Mikrokreditprogramm mittlerweile angewandt. Es gibt nur wenige Entwicklungsorganisationen in Bangladesch, die nicht Mikrokredite an die Armen verteilen. Seine positiven Auswirkungen nicht leugnen wollend, hat dieses Programm in der Praxis einen ganz erheblichen Nachteil. Es schließt nur moderat Arme ein, das heißt Arme, die sowohl physisch als auch psychisch in der Lage sind, einen kleinen Job auszuüben, um Geld zu verdienen und um somit erhaltene Kleinkredite zurückzuzahlen. Der Großteil nicht-staatlicher Entwicklungsorganisationen spricht diese moderat Armen gerne als Zielgruppe an, wissen sie doch, dass hier die Rückzahlungsquote bei nahezu einhundert Prozent liegt. Bei Zinssätzen von über 20 Prozent pro Jahr sind diese Mikrokreditprogramme auch eine Einnahmequelle für Entwicklungsorganisationen. Was ist jedoch mit den extrem Armen, mit Menschen, die weder in der Lage sind, eine körperliche Arbeit zu verrichten, noch lesen oder schreiben können. Diese Menschen sind nicht kreditwürdig und werden daher von vielen Entwicklungsorganisationen nicht berücksichtigt. Sie scheinen der Bodensatz der Gesellschaft zu sein, zu aufwändig und zu Risiko behaftet, um sich darum zu kümmern.

Andererseits haben extrem arme Menschen meistens gar kein Interesse Kleinkredite zu diesen Konditionen zu erhalten, da sie sich nicht in der Lage sehen, Kredite zum fälligen Zeitpunkt zurückzuzahlen. Sie fürchten sich davor, sich zu verschulden. Vielmehr wollen die extrem Armen an sozialen Programmen (Bildung, Gesundheit etc.) teilnehmen, um ihre Lebenssituation auf lange Sicht zu verbessern. Dies wiederum erhöht ihre Kreditfähigkeit. Jedoch besteht in den meisten Entwicklungsorganisationen nicht die Möglichkeit an sozialen Programmen teilzunehmen, wenn die Armen nicht auch gleichzeitig an den Kreditvergabeprogrammen partizipieren. Ein Teufelskreis - beispielsweise hat die größte Entwicklungsorganisation Bangladeschs in der Vergangenheit ein Essential Health Services Programme durchgeführt. Die von der Organisation angestellten Verantwortlichen für dieses Gesundheitsprojekt vermieden es, in den Dörfern die extrem Armen aufzusuchen, da diese ohnehin nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um Medikamente zu kaufen. Denn diese Mitarbeiter vermitteln auf Kommissionsbasis. So wurden lediglich Haushalte moderat Armer besucht, die es sich eine medizinische Versorgung bedingt leisten können. Extrem Arme, die nicht an Kreditprogrammen zahlreicher Entwicklungsorganisationen teilnehmen wollen oder dürfen, werden also größtenteils von sozialen Programmen ausgeschlossen. Hier besteht enormer Handlungsbedarf.

Doch um ihnen gezielt helfen zu können, müssen deren Lebensumstände vorerst genauer beleuchtet werden. Dafür gilt es folgende Fragen zu klären: Wer sind die extrem Armen? Welche Arten von Dienstleistungen benötigen sie am dringendsten? Welche zuständigen Organisationen oder Institutionen können adressiert werden, um öffentlichen Druck auszuüben, damit benötigte Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden? Welchen Beitrag können extrem Arme selber leisten, um ihre Situation zu verbessern? Können extrem Arme organisiert werden, so dass sie langfristig selber in der Lage sind, ihre Rechte einzufordern?

Auch die nicht-staatliche Organisation COAST arbeitet bisher lediglich mit moderat Armen zusammen. Da COAST jedoch künftig auch daran interessiert ist, Projekte mit extrem Armen durchzuführen, müssen diese Fragen beantwortet werden. Dazu habe ich in meiner Projektregion Bhola Workshops mit den extrem Armen moderiert, sie in ihren Hütten besucht, um deren Leben besser verstehen zu können und um eine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit zu schaffen. In den Workshops selber habe ich versucht einige einfache Methoden anzuwenden, die der Veranstaltung einen eher spielerischen Charakter geben sollen. Es gibt einen ganzen "Werkzeugkasten" einfacher Methoden, um gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung handlungsrelevante Informationen über ländliches Leben und ländliche Ressourcen zu sammeln. Dabei sollen die Betroffenen selbst eine aktive Rolle in Problemanalysen und Planung übernehmen. Meine Person soll dabei "lediglich" moderierend einwirken und motivierend auftreten. Ziel dieser Methoden ist es, den Einfluss Außenstehender zu minimieren. Vielmehr soll sich die lokale Bevölkerung als Eigentümer der erzielten Resultate fühlen. Sie sollen aus den Ergebnissen abgeleitete Aktivitäten selbst in die Hand nehmen können.

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