Startseite
Jetzt spenden

"Es war der schönste Tag in meinem Leben"

Wem es gelingt, jeden Tag seine Schale mit Reis und etwas Gemüse, vielleicht sogar mit etwas Fisch zu füllen, der ist "nur" arm. Wem nicht einmal das gelingt, der ist extrem arm. Extreme Armut ist kein Schicksal, weder in Bangladesch noch anderswo auf der Welt. Doch allein in Bangladesch leiden nach Weltbank-Angaben 34 Millionen Menschen unter chronischem Hunger: sie haben weniger als 1.800 Kilokalorien täglich zum Leben. Oft können sie sich nur eine dürftige Mahlzeit am Tag leisten. Nur wenige Entwicklungsprojekte kümmern sich um diese Menschen. Vor gut zwei Jahren startete daher NETZ in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort ein Selbsthilfe-Programm für extreme arme Frauen - mit teilweise erstaunlichen Erfolgen.

Halima Karthum ist erst 30 Jahre alt, aber sie war schon zweimal verheiratet und hat zwei Töchter. Die erste Ehe arrangierten ihre Eltern, da war sie gerade neun Jahre alt. Ihr Mann war fast dreißig Jahre älter. Mit dreizehn bekam sie ihre erste Tochter, Shopna. Kurz darauf ließ sich ihr Mann scheiden. Er hatte noch eine andere Frau und Kinder, Halima interessierte ihn nicht mehr. "Es war eine schwere Zeit", erzählt sie, "ich habe mich wahnsinnig dafür geschämt." Mit zwanzig heiratete sie wieder, einen Mann, der Mitte dreißig war. "Ich habe ihn geliebt, er war meine Wahl", verrät Halima. Doch auch dieser Mann hatte schon eine andere Frau und Kinder, von denen Halima nichts wusste. Kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter, Noorjahan, verließ sie auch dieser Mann. "Ich war froh, dass meine Mutter mich mit meinen Töchtern wieder aufgenommen hat", sagt sie, "obwohl die Scheidungen für meine Familie eine große Schande waren."
Von extremer Armut sind in Bangladesch vor allem Frauen betroffen, aber auch alte, kranke und behinderte Menschen. Wer nicht in der Lage ist zu arbeiten und über kein eigenes Kapital verfügt, gerät schnell in Existenznot. Für viele Frauen bedeuten Scheidung oder Tod des Ehemanns den Abstieg in extreme Armut. Repressive Traditionen, schlechte oder keine Ausbildung und rechtliche Zurücksetzung der Frauen sind die häufigsten Gründe dafür.

Die Ärmsten gelten als nicht kreditwürdig
Zwar ist Bangladesch das Land mit der weltweit höchsten Dichte an Nichtregierungsorganisationen (NGOs), aber nur wenige arbeiten mit den ärmsten Menschen. Die meisten Organisationen verleihen Kleinkredite an arme Familien, um deren wirtschaftliche Situation zu verbessern. Aus den Zinseinkünften finanzieren die NGOs die Gehälter ihrer Mitarbeiter. Extrem Arme werden von diesen Programmen jedoch kaum erreicht, weil sie meist als nicht kreditwürdig gelten. Aus diesem Grund konzipierte die NGO "Jagorani Chakra" in Zusammenarbeit NETZ ein Entwicklungsprogramm für extrem arme Frauen. Im Sommer 2002 begann die Arbeit - im Distrikt Chuadanga, einem der ärmsten Distrikte Bangladeschs.

Halima ist eine der 3.327 Frauen, die an dem Projekt teilnehmen, und ihr Leben hat sich seitdem entscheidend verändert. Sie lebt in einem kleinen Lehmhaus am Rande der Kleinstadt Andulbaria. Während eines schweren Regenfalls vor einigen Wochen stürzte ein Teil ihres Hauses ein. Sie flickte es notdürftig mit Bambusmatten und Plastikplanen, die sie noch nicht durch neue Lehmwände ersetzen konnte. Aber sie ist froh, dass sie überhaupt eine eigene Bleibe hat. "Meine Mutter, bei der ich noch vor wenigen Monaten lebte, hat selber nichts", erzählt sie. Bevor sie an dem Entwicklungsprogramm teilnahm, hielt sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. "Manchmal konnte ich in einer Spinnerei aushelfen, manchmal bei einer reichen Familien als Haushaltshilfe", berichtet sie, "und bei den Reisernten konnte ich mir meist auch etwas verdienen." Oft konnte sie sich nur eine Mahlzeit am Tag leisten, manchmal zwei. Etwas Reis und Gemüse täglich, nur selten Linsen, Fisch oder Fleisch.

Geografisch und wirtschaftlich am Rand
Nach einer Klassifizierung des Welternährungsprogramms weist der im Westen des Landes, an der Grenze zu Indien gelegene Distrikt Chuadanga einen hohen Anteil an extrem armen Haushalten auf. Dort leben etwa 850.000 Menschen. Nur gut ein Drittel der Bevölkerung kann lesen und schreiben. Wichtigste Einnahmequelle der Menschen ist die Landwirtschaft, es werden vor allem Reis, Mais und Zuckerrohr angebaut. Abgesehen von der großen Zuckerfabrik in der Kreisstadt Darsana sind keine größeren Industrie- und Dienstleistungsbetriebe angesiedelt. Die wenigen Kleinunternehmen wie Ziegelbrennereien, Reismühlen und Spinnereien produzieren für den lokalen Markt. Chuadanga ist auch einer der abgeschiedensten Distrikte Bangladeschs. Für das Projekt bringt das einige Schwierigkeiten mit sich. "Wir haben viele Probleme, unser Personal langfristig zu halten", erläutert der Projekt-Koordinator Mazed Nawaz. "Wenn jemand einen Job in einer weniger entlegenen Region des Landes findet, nimmt er das Angebot an." Hilfe für verwundbare Gruppen
Als Halima im Spätsommer 2002 davon erfuhr, dass die Organisation "Jagorani Chakra" in Andulbaria eine Selbsthilfe-Gruppe für extrem arme Frauen ins Leben ruft, wollte sie unbedingt diese Chance nutzen. Kurz zuvor hatte sie beim Gemeinderat darum gebeten, in ein Hilfsprogramm für besonders verwundbare Gruppen aufgenommen zu werden. Dann hätte sie eineinhalb Jahre lang monatlich dreißig Kilo Weizen bekommen. Aber sie wurde abgelehnt. Bei "Jagorani Chakra" hingegen wurde sie angenommen. "Wir nehmen nur Frauen in unser Projekt auf, die wirklich in einer schwierigen Lebenssituation sind", sagt Nawaz, "Frauen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, so wie Halima." Ziel des Projekts ist die Verbesserung der Lebensbedingungen durch den Aufbau eigenständiger Selbsthilfe-Organisation in zwei der vier Landkreise des Chuadanga-Distrikts. Die Frauen gestalten aktiv diesen Prozess. "Jagorani Chakra" vermittelt ihnen, wie sie ihre Gruppe organisieren können. Die Frauen lernen lesen und schreiben und nehmen an Schulungen in Tierhaltung, Hygiene und grundlegenden Menschenrechten teil. Außerdem erhalten die Frauen Kleinkredite für Investitionen, mit denen sie eigenes Einkommen erwirtschaften können. "Jagorani Chakra" ist eine der größten nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen des Landes. Sie wurde 1976 gegründet und kann auf umfangreiche Erfahrungen im Aufbau von Selbsthilfe-Institutionen zurückgreifen. Finanziert wird das Projekt für extrem arme Frauen aus privaten Spenden und Zuschüssen des deutschen Entwicklungsministeriums. Die Ärmsten können nicht lesen und rechnen
Alle 3.327 Teilnehmerinnen des Programms leben unterhalb der Armutsgrenze. Etwa 75 Prozent der Frauen sind extrem arm, das heißt, sie verfügen über kein eigenes Land oder sonstige Besitztümer und müssen mit durchschnittlich weniger als 20 Cent pro Tag auskommen. Viele sind geschieden oder verwitwet, haben sich und ihre Kinder durch Schmuggel oder Prostitution über Wasser gehalten. Die restlichen 25 Prozent gelten nicht als extrem arm, denn sie haben ein regelmäßiges Einkommen - das allerdings im Durchschnitt immer noch unter 40 Cent pro Tag liegt. "Wir haben diese Frauen in das Programm aufgenommen, da sie eher über die Organisationsfähigkeiten verfügen, die in den Gruppen nötig sind" erläutert Projekt-Koordinator Nawaz. "Viele der extrem Armen hatten nie die Möglichkeit, solche Fähigkeiten zu entwickeln, und können zum Beispiel auch nicht lesen und rechnen."
Halima engagierte sich von Anfang an stark in dem Projekt, weil "ich überzeugt davon bin, dass ich gemeinsam mit der Gruppe viel mehr erreichen kann, als alleine", sagt sie. Die Frauen ihrer Gruppe wählten sie zur Schriftführerin. Ihre Arbeit war so überzeugend, dass sie bald darauf auch zur Schriftführerin der neu geschaffenen Selbsthilfe-Organisation gewählt wurde. Gruppenführerin ist sie auch heute noch. Aufbau von Selbsthilfe "Jagorani Chakra" organisiert die Frauen nach und nach auf verschiedenen Ebenen. Zunächst wurden insgesamt 207 Gruppen mit je 12 bis 25 Mitgliedern geformt. Je 6 bis 8 dieser Gruppen haben sich zu einer Selbsthilfe-Organisation zusammengeschlossen. Jede Selbsthilfe-Organisation bekommt ein Versammlungsgebäude. Bisher wurden 16 von 33 Gebäuden errichtet. Anders als bei üblichen Kleinkredit-Programmen, die von NGOs verwaltet werden, beziehen die Frauen ihren Kleinkredit von ihrer Selbsthilfe-Organisation. Aus Projektmitteln erhielt jede Selbsthilfe-Organisation ihren eigenen Kreditfonds. Die Frauen selber sind für das Management der Ersparnisse, der Kredit-Rückzahlungen und des Bank-Kontos ihrer Organisation verantwortlich. "Einige Frauen trauen sich aber noch immer nicht, einen Kredit zu beantragen, weil sie Sorge haben, ihn nicht zurückzahlen zu können", sagt Projekt-Koordinator Nawaz. "Wir müssen unsere Arbeit noch deutlich verbessern, damit auch wirklich alle Frauen von dem Programm profitieren." Der erste Kredit
Im Dezember 2004 wurde die nächste Stufe des Projekts umgesetzt: In beiden Landkreisen schlossen sich die Selbsthilfe-Organisationen zu Föderationen zusammen. Auf allen Ebenen wählen die Frauen ihre Repräsentantinnen selbst, die Vorsitzende, die Schriftführerin und die Schatzmeisterin. Lediglich den Föderationen stehen vorläufig der Projekt-Koordinator Nawaz als Vorsitzender und sein Stellvertreter als Schriftführer vor. Allerdings sind ihre Stellvertreter und die Schatzmeisterin aus den Reihen der Frauen gewählt. Am 30. Dezember 2004 wurden die beiden Föderationen im Rahmen einer großen Zeremonie, an der auch die höchsten Lokalpolitiker des Chuadanga-Distrikts teilnahmen, formell gegründet. Spätestens Ende 2006 sollen die Frauen ganz die Führung der Föderationen übernehmen. Halima erhielt im September 2003 ihren ersten Kleinkredit in Höhe von 2.000 Taka, das sind etwa 28 Euro. "Ich war so glücklich", erzählt sie. "Endlich hatte ich die Möglichkeit, etwas Eigenes aufzubauen." Sie kaufte sich sieben Hühner und sechs Gänse, deren Eier sie regelmäßig auf dem Markt verkaufte. Dadurch verdiente sie etwa 1,70 Euro monatlich. Außerdem begann sie, mit Reis zu handeln. Täglich kaufte sie 40 Kilo Reis auf dem Markt, den sie in Andulbaria an ihre Nachbarn weiter verkaufte. Auf diese Weise verdiente sie täglich rund 28 Cent. Schon bald konnte sie weitere Hühner und Enten kaufen, und ihr Verdienst durch den Verkauf der Eier stieg schließlich auf bis zu 5,60 Euro im Monat. Nach einigen Monaten hatte sie genügend Geld angespart, um ein kleines Stück Land am Stadtrand von Andulbaria zu erwerben. Dort errichtete sie mit ihren eigenen Händen ein kleines Lehmhaus. "Meine Familie hat mich dabei unterstützt", sagt sie, "vor allem meine ältere Tochter." Kandidatur zum Gemeinderat
Am 3. Oktober 2004 wurde der Gemeinderat von Andulbaria neu gewählt. Seitdem dieses Gremium ihr die Zuteilung aus dem staatlichen Hilfsprogramm verweigert hatte, beschäftigte sie der Gedanke, selber für den Gemeinderat zu kandidieren. "Durch das Projekt bin ich ermutigt worden, mich tatsächlich aufstellen zu lassen. Es hat mir Kraft gegeben." Sie diskutierte ihren Plan mit den Mitgliedern ihrer Selbsthilfe-Organisation auf einer eigens dafür einberufenen Versammlung. "Alle waren der Meinung, dass es gut sei, wenn jemand von uns im Gemeinderat säße", erinnert sie sich, "dadurch hätten alle mehr Einfluss." Als sie sich zur Kandidatur entschloss, besaß sie zwanzig Hühner, sechs Gänse und sechs Enten. "Ich habe fast alle verkauft, um meinen Wahlkampf zu finanzieren", erzählt Halima. "Nur vier Hühner habe ich behalten, aber die sind wenig später an einer Krankheit gestorben." Sie verschwindet kurz in ihrer Hütte und kommt mit einem kleinen Wahlplakat zurück. "Davon habe ich 6.000 Kopien ausgehängt", berichtet sie nicht ohne Stolz. Das kostete sie 28 Euro. Sie warb für ihre Kandidatur in ihrer und einer benachbarten Selbsthilfe-Organisation. Anschließend ging sie in ihrem Wahlbezirk von Tür zu Tür und stellte sich vor. Mit Erfolg, denn 1.325 von etwa 3.000 Wahlberechtigten gaben ihr ihre Stimme. Damit hatte sie sich gegen die beiden anderen Kandidatinnen durchgesetzt. "Es war der schönste Tag in meinem Leben" schwärmt Halima, "dieser Erfolg gibt mir Kraft, weiterzumachen." Kurz nach der Wahl schwemmte ein Regenguss einen Teil ihres Hauses weg. Sie beantragte einen zweiten Kleinkredit, um das Haus reparieren zu können und ihren Reishandel zu expandieren. Im November erhielt sie schließlich 4.000 Taka, etwa 56 Euro. "Durch mein Amt im Gemeinderat und den Reishandel konnte ich mich um die Reparatur des Hauses aber noch nicht kümmern", fügt sie entschuldigend an. Außerdem trat sie im Zuge der Wahl als Schriftführerin ihrer Selbsthilfe-Organisation zurück, "weil es sonst einfach zu viel Arbeit für mich ist." Endlich - drei Mal täglich zu essen
Für fünf Jahre ist Halima nun im Gemeinderat von Andulbaria und bekommt dafür eine monatliche Aufwandsentschädigung von 9,80 Euro. Nach fünf Monaten hatte sie genügend Geld davon gespart, dass sie sich 18 Gänseküken zur Aufzucht kaufen konnte. Der Rat umfasst zwölf Mitglieder, neun Männer und drei Frauen. Bisher hat sie erreicht, dass sechs extrem arme Frauen in das staatliche Hilfsprogramm für besonders verwundbare Gruppen aufgenommen wurden und seit Januar 2005 monatlich dreißig Kilo Weizen bekommen. Vier davon sind Mitglieder ihrer Selbsthilfe-Organisation. Außerdem hat sie drei Frauen auswählen können, die jetzt Witwengeld vom Staat erhalten. "Mein Ziel ist es, dass so viele extrem arme Frauen wie möglich Weizen vom Staat bekommen", erläutert sie. Ob sie sich ein weiteres Mal zur Wahl stellt, weiß sie noch nicht. "Wenn die Menschen mit meiner Arbeit zufrieden sind, dann kandidiere ich vielleicht noch einmal", sagt sie diplomatisch. Für sie steht derzeit im Vordergrund, dass "ich die Frauen in meiner Selbsthilfe-Organisation mehr unterstützen kann, denn sie haben es besonders nötig". Halima ist ein außergewöhnliches Beispiel. Doch auch andere Frauen aus dem Projekt haben versucht, in den Gemeinderat ihres Ortes gewählt zu werden. Zwei waren dabei erfolgreich. Die Dokumentation des Projekts, die sowohl intern als auch von unabhängigen Experten durchgeführt wird, zeigt jedoch vor allem auf, dass auf breiter Basis Veränderungen erreicht wurden. Viele Frauen konnten sich eine eigenständige Existenz aufbauen, meist durch den Erwerb einer Kuh oder Ziege oder einiger Hühner. Zu Beginn des Projekts hatte keine einzige der Frauen drei Mahlzeiten am Tag. Nach einem Jahr bereits konnten sich 47 Prozent der Frauen drei Mahlzeiten am Tag leisten. Im Durchschnitt können die Frauen jetzt 30 Prozent mehr für höherwertige Lebensmittel ausgeben wie Linsen, Fisch oder Eier. "Viele Frauen beteiligen sich aktiv am Aufbau ihrer Selbsthilfe-Organisation", berichtet Projekt-Koordinator Nawaz. "Sie spüren, dass sie ernst genommen werden und eine wirkliche Chance bekommen, ihr Leben zu verbessern." Ende 2006 sollen die Selbsthilfe-Organisationen weitgehend selbstständig arbeiten und von "Jagorani Chakra" nur noch beratend unterstützt werden. Bis dahin gibt es noch viel tun. "Wir wollen nachhaltig verändern", sagt Nawaz, "wir wollen diesen Frauen eine wirkliche Perspektive geben. Unsere Arbeit ist erst dann beendet, wenn sich ihr Leben positiv verändert hat."

Mehr BeiträgeAlle Beiträge

Ihre Spende kommt an.

Alle Projekte ansehen
Jetzt spenden

Sichere SSL-Verbindung