Erste Eindrücke aus Gaibandha
Es ist kaum zu glauben: Heute ist bereits der 9. Dezember. Ich sehe vor mir, wie in Deutschland schon sämtliche Fenster geschmückt sind und die Weihnachtsmärkte im Glanz erstrahlen. Wie sich die Kinder morgens aufgeregt darüber unterhalten, was in ihren Adventskalendern war und die Menschen gehetzt durch die Straßen laufen. Und natürlich sehe ich vor mir, wie mein kleiner Bruder seinen Stapel Werbekataloge herausholt und allen eifrig erklärt, was er sich zu Weihnachten wünscht. Ja, ich sehe das alles vor mir und doch erscheint es mir sehr weit entfernt.
Ich sitze in meinem grün getünchten Zimmer. Über meine Tastatur laufen kleine, rote Ameisen. Ich habe das Gefühl, dass es mitten in der Nacht ist, dabei ist es erst halb neun. Draußen ist es stockdunkel. Und auch in meinem Zimmer bleibt das Licht gelegentlich für einige Minuten weg, weil der Strom ausfällt. Von draußen hört man Männerstimmer, von den Trödlern, die jetzt noch bei Kerzenschein ihren "tscha", ihren Tee an der Teebude trinken. Der Gecko an meiner Wand gibt seine typischen "ticktick" - Laute von sich und vor meiner Tür singt eine Männergruppe in dramatischen Tonfall ein Volkslied. Ansonsten hört man nicht viel.
Ich befinde mich in Gaibandha, einem Distrikt im Norden des Landes, der durch die drei großen Flüsse Brahmaputra, Jamuna und Tista, und damit die alljährliche Flut geprägt ist. Ich lebe und arbeitet bei der Organisation Gana Unnayan Kendro (GUK). Dort habe ich vor etwa zwei Wochen eines der unzähligen Gästezimmer bezogen.
Am Morgen versuche ich um etwa 7:00 Uhr aufzustehen. Meistens wird es jedoch später. Mit Hilfe einer Heizspirale wärme ich mein Duschwasser auf eine erträgliche Temperatur. Leider ist mir die Heizspirale nicht nur eine Hilfe, sondern auch ein Feind. Und so kam es dazu, dass bei einem der ersten Versuche nicht nur das Wasser, sondern auch die Zimmertemperatur aufgewärmt wurde - ungünstigerweise durch Verbrennung meiner Tasche. Über meine schönen bangladeschischen Klamotten (Shalwa: eine lange weite Hose; Kameez: Ein langes Oberteil; Urna: Eine Tuch, das auf vielfältige Weise getragen werden kann) ziehe ich dann einen meiner beiden wärmeren Pullover. Für jeden, der irgendwann einmal um diese Jahreszeit nach Bangladesch kommen möchte: Man unterschätze bitte nicht den Winter, der in Bangla immerhin "shit" heißt. Dass man sich in einem Land mit tropischem Klima befindet, heißt nicht, dass einem nicht kalt werden kann! Zwar finde ich das Einwickeln in Schals und Mützen etwas übertrieben, dennoch ist es am Morgen und Abend - insbesondere während längerer Motorradfahrten - recht kühl. Zum Frühstück esse ich Ruti, das sind kleine Brotfladen, mit verschiedenem Gemüse. Dazu in Zwiebeln und grünem Chili gebratenes Ei oder einen total leckeren, süßen Jogurt.
Zur Arbeit erscheine ich in meinem Büro, ein Stockwerk tiefer, um 9 Uhr. Das was ich "kaj kori" (ich arbeite) nenne, gestaltet sich meist jedoch etwas anders, als es sich anhört. Innerhalb des ersten Monats werde ich mich erst einmal eingewöhnen und unsere Partnerorganisation und ihre Projekte kennen lernen. Zu diesem Zweck fertige ich einen Bericht über GUK und die Arbeitsregion Gaibandha an. So verbringe ich einen Teil meiner Arbeitszeit damit, in die Arbeitszimmer der anderen Kollegen zu gehen, um mir ein im Befehlston hervorgebrachtes - jedoch freundlich gemeintes - "boshen" (wörtlich: setzen!) anzuhören. Gemeinsam trinken wir dann einen Tee und plaudern ein bisschen. Bisher habe ich in vielen Fällen feststellen müssen, dass die Englischkenntnisse meines Gesprächspartners und meine eigenen Bangla-Kenntnisse zu gering sind, um ausreichend über das Projekt fragen zu können. In vielen Fällen kann ich auf englische Projektbeschreibungen oder andere Personen zurückgreifen.
Eine wichtige Aufgabe für mich ist das Erscheinen bei friedlichen und sehr geordneten kleinen Demonstrationen, meist zum Thema Frauenrechte. Dies scheint auch das einzige zu sein, womit ich meiner Partnerorganisation gerade tatsächlich nützlich sein kann. Der wichtigste und interessanteste, oft aber auch anstrengende Teil meiner "Arbeit" sind die fieldvisits. Gelegentlich fahre ich mit Mitarbeitern meiner Organisation in die Projektregionen und besuche Schulen, Frauengruppen, Reisausgabestellen für Flutopfer oder Ähnliches. Dabei kann ich die Arbeit von GUK mit eigenen Augen sehen und erleben, wie die Menschen hier leben. Manchmal empfinde ich diese fieldvisits auch als sehr anstrengend und schwierig. Insbesondere weil ich als weise Frau nun einmal angeschaut werde. Obwohl es hier einige Freiwillige vor mir gab, ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Weiser kommt. Immer wieder passiert es, dass Kinder,die mich sehen angerannt kommen, ihren kleinen Arm heben und laut "Bideshi" (Ausländer) rufen. Ich denke dann oft daran, was passieren würde, wenn ich mich in Deutschland auf die Straße stellen, auf eine dunkelhäutige Person zeigen und "Ausländer" rufen würde. Natürlich muss ich bei diesem Gedanken schmunzeln.
Manchmal jedoch gehen meine Erfahrungen mit dem Ausländersein über diese Schmunzelebene hinaus und werden sehr anstrengend. So erging es mir z.B. letzte Woche, als ich mit meiner Arbeitskollegin Boby auf eine kleine Bank im Schatten saß und wir uns unterhielten. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich etwa siebzig Menschen in einem Kreis um unsere Bank versammelt, die uns einfach nur anstarrten. Und auch wenn ich mich eigentlich schon ganz gut eingelebt habe, glaube ich doch, dass einiges mir irgendwie immer fremd und vielleicht ein wenig merkwürdig für mich bleiben wird.