"Entschuldigen Sie, wir hätten da ein paar Fragen"
Endlich, ein Projektbesuch nur für mich. Es soll ausschließlich um meine Arbeit und die Aufgaben, die ich von NETZ erhalten habe gehen. Eineinhalb Monate lang habe ich nun begleitet, bin mal hier und mal da mitgefahren, habe über unzählige Schultern geschaut oder bin einfach hinterher gelaufen. Die Zeit war spannend - keine Frage, aber nie hatte ich das Gefühl wirklich zu arbeiten. Ich war immer eher ein Gast. Stille Beobachterin, die dann doch früher oder später im Mittelpunkt des Geschehens stand.
Heute morgen sind wir los gefahren, um Teilnehmerinnen in von NETZ unterstützten Projekten zu besuchen. Eigentlich sollte ich ganze Frauengruppen interviewen, doch diese werden in meinem Projekt erst in den nächsten Wochen zusammengestellt. Gerade erst hat Polli Sree die Auswahl der Teilnehmerinnen beendet und wird nun im zweiten Schritt die Frauengruppen bilden.
Ausgestattet mit meinem Fragebogen und der Kamera, steige ich auf das Motorrad. Es geht los, doch zu meinem Erstaunen fahren wir nur ein paar Minuten. Direkt an der Landstraße halten wir an und steigen ab. Links und rechts stehen einige Häuser. Das Dorf in das wir gehen heißt Sempur, in der Gemeinde Poliprodpur, die zu meinem Heimatdistrikt Dinajpur gehört. Die erste Frau zu der wir gehen ist nicht da, wir überqueren die Straße und treffen dort im Schatten sitzend auf eine weitere Teilnehmerin des Projektes. Meine Kollegen sprechen sie an, erklären ihr wer wir sind und was ich von ihr möchte.
Lakshmi Mari ist der Name der Frau. Sie erhebt sich und erst jetzt kann ich sehen, wie dürr sie wirklich ist. Gebeugt geht sie zu einer Hütte, setzt sich vor den Eingang. Eine Frau bringt eine Matte für uns, Lakshmi möchte sich auch nach mehrmaligem Bitten nicht darauf setzen. Noch einmal erklären wir ihr und den wenigen umstehenden Personen warum wir hier sind, dann kann ich anfangen meine Fragen zu stellen. Einer der beiden Mitarbeiter von Polli Sree übersetzt für mich.
Lakshmi ist verheiratet und vermutlich 65 Jahre alt. So ganz weiß sie es nicht und auch keine der anderen Personen. Sie lebt zusammen mit ihren zwei Enkelsöhnen hier. Was mit ihrem Ehemann ist verstehe ich nicht. Ich verstehe nur, dass ihre Kinder bereits verstorben sind.
Die beiden Enkelsöhne sind 26 und 18 Jahre alt. Ihr 26-jähriger Enkel hat keine Schulbildung erhalten. Von ihrem jüngeren Enkel erzählt sie, dass er durch die Prüfungen nach der 9. Klasse gefallen ist.
Nach ihrer Situation gefragt, erzählt sie uns, dass sie nur zwei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen. Manchmal sparen sie auch eine für den nächsten Tag auf, da es sonst an diesem keine gäbe. Wenn es ihre Gesundheit zulässt, arbeitet sie als Tagelöhnerin auf dem Feld. Wie ihre Enkel. Wenn ich die kleine zerbrechlich Frau so vor mir sitzen sehen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie oft auf das Feld geht. Die Arbeit als Tagelöhnerin bringt ihnen nicht das ganze Jahr Geld ein. Nur ungefähr an 200 Tagen im Jahr.
Als alle relevanten Fragen von meinem Bogen gestellt sind, reden meine Kollegen noch ein wenig mit Lakshmi über ihre Lage, dann gehe ich mit ihr in den Hof des Hauses. Lakshmi erklärt mir, dass sie nichts weiter als das Bett auf der Veranda des Hauses besitzt. Eine Wolldecke für den Winter hat sie noch. Auf ihrem Bett sitzend mache ich ein Foto von ihr. Als ich ihr das Foto auf meiner Kamera zeige, lacht sie zum ersten mal seit wir hier sind. Sie scheint sich wirklich darüber zu freuen. Nach ein paar weiteren Fotos machen wir uns auf den Weg zur nächsten Projektteilnehmerin.
Durch wunderschöne Landschaft, mit kleinen Wäldern, Reisfeldern und leichten Hügeln fahren wir nach Bottoli, in der Kanpur-Gemeinde. Die Häuser des Dorfes liegen zwischen Bäumen versteckt. Elisabeth Mormu, eine weitere Teilnehmerin des Projektes "Ein Leben lang genug Reis" finden wir neben ihrer Hütte sitzend. Sie spült gerade ihre Metalltöpfe mit dem Wasser der Trinkwasserpumpe ab. Auch ich trinke nur noch das Wasser aus so einer Pumpe, seit ich nach Dinajpur gekommen bin. Wieder erklären meine Kollegen warum wir gekommen sind und was meine Aufgabe ist. Wir setzen uns mit Elisabeth auf eine Matte und ich beginne meine Fragen zu stellen.
Elisabeth ist 47 oder 48 Jahre alt. Sie lebt zusammen mit ihrem Ehemann in der Hütte, dieser scheint aber gerade nicht da zu sein. Sie leben beide nur von einer Mahlzeit am Tag. Wenn die Gesundheit es zu lässt, dann gehen auch sie aufs Feld und arbeiten als Tagelöhner. Man erzählt mir, dass sie von allem lebt, was sie zu essen bekommen kann. Vor allem von einer Art Kartoffel, die bei Bengalen eher unbeliebt ist, weil man sie sehr lang kochen muss.
Auch Elisabeth zeigt mir ihren Besitz. Sie lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Raum, auf dem Boden stehen ein paar kleine Kisten und Eimer. An der Wand hängt ein Moskitonetz. Sie besitzt noch ein paar Töpfe. Mehr hat auch sie nicht.
Wir machen uns wieder auf den Weg zurück ins Büro nach Birampur. Auf dem Weg kommen wir an einem kleinen, halb ausgetrockneten Teich vorbei, der für die Bewässerung der Reisfelder genutzt wurde. Schon auf dem Hinweg hatte ich mich über die vielen Männer im Schlamm des Teiches gewundert. Mein Kollege erklärt mir, dass sie nach Fischen suchen. Sie graben im Schlamm und fangen die Fische aus den kleinen verbliebenen Pfützen. Es scheint ihnen sichtlich Spaß zu machen und auch nicht schwer zu sein. Selbst aus einiger Entfernung kann ich es in den Pfützen zappeln sehen. Wir halten und ich mache ein paar Fotos. Einige Männer strecken mir stolz ihre gefangenen Fische entgegen.
Wir fahren weiter. Ich fange an mir Gedanken darüber zu machen, wie es denn sein kann, dass Menschen in dieser wunderschönen Gegend, mit Reisfeldern bis zum Horizont und an jeder Ecke einer vor dem Motorrad flüchtenden Ziege oder Kuh, nur Zugang zu einer einzigen wenig nahrhaften Mahlzeit am Tag haben.