Eine Woche mit Rokeya Begum
Samstag: Die Morgenluft in Netrakona ist noch angenehm frisch, doch im Laufe des Tages wird die Hitze fast unerträglich werden. Es ist halb sechs, Rokeya Begum schaltet nach ihrem Morgengebet den Fernseher ein, um die neuesten Nachrichten zu erfahren. Nebenan wachen die anderen auf - Rokeyas Schwester Rina, deren Söhne Rimu und Rousseau, ihre Mutter und die zwei Straßenkinder, die im Haushalt helfen, vor allem aber zur Schule gehen. Hier, in ei-nem bescheidenen Haus, einfach doch durchaus gemütlich eingerichtet, lebt Rokeya seit ihrer Geburt.
Nach dem Frühstück, meist ruti, ein dünnes Fladenbrot, mit Gemüse und Ei, macht sie sich auf den Weg zu "ihrem Baby", so nennt sie mit einem Augenzwinkern die 1985 von ihr ge-gründete lokale NGO Sabalamby Unnayan Samity (SUS). Leidenschaftlich, aber streng leitet sie die vielen Projekte und Mitarbeiter. Das menschliche Miteinander hat dabei immer Vor-rang. "Was denkst du darüber?" will Rokeya oft von ihren Mitarbeitern wissen.
Wie jeden Samstag trifft sich morgens die Führung, um die Entwicklungen und Probleme der letzten Woche zu besprechen. Und weiter geht's. E-Mails müssen beantwortet, Budgets über-arbeitet, Termine gemacht, Ideen ausgetauscht werden. Zwischendurch viele Tees und Pan-blätter mit Betelnüssen - "Bestimmt zehn am Tag", sagt Rokeyas Neffe Rimu -, bis es ab 18 Uhr zu Hause weitergeht. Auch hier wartet der Computer, die Fachzeitschriften und die Bü-cher über Entwicklungspolitik. Nach dem Abendessen, es ist mittlerweile Neun Uhr, bleibt zu weilen etwas Zeit, um im Kreise der Familie über den Tag zu sprechen. "Manchmal schaut sie aber auch einfach nur mal fern mit uns", sagt Rimu und lacht, "aber allzu lange bleibt sie nicht dabei."
Sonntag: Abfahrt sechs Uhr morgens. Mittlerweile fast wöchentlich muss Rokeya-Apa (Schwester), wie sie von allen genannt wird, nach Dhaka, eine anstrengende vier- bis fünf-stündige Fahrt, um Geber zu treffen oder andere Termine wahrzunehmen.
Das Handy klingelt, Rokeyas Tochter ist dran. Beide Töchter leben inzwischen mit ihren Fa-milien in Dhaka. "Das Verhältnis zu meiner Großen war nicht immer ganz einfach", sagt sie und hält kurz inne. Mit 13 Jahren wurde Rokeya an einen fast drei Mal so alten Mann verhei-ratet, der hat sie auch geschlagen. Irgendwann hielt sie es nicht mir aus, sie war damals An-fang zwanzig, und floh mit den zwei kleinen Kindern zu ihrem Vater, der es inzwischen bitter bereute, sie so früh verheiratet zu haben. Aber die Odyssee war noch nicht vorbei: Ihr Ex-Mann nahm ihr die ältere Tochter weg, gerade einmal zweieinhalb Jahre alt. Ein Alptraum für jede Mutter. Rokeya kämpfte sich durch, wurde Lehrerin an der einzig weiterführenden Schu-le Netrakonas. "Eines Tages kam meine Kleine dann an die Schule - verhüllt in eine Burka. Sie litt sehr unter der neuen Frau ihres Vaters und war fest davon überzeugt, ihre Mutter sei früh verstorben." Zwei Jahre später gab der Vater nach, und er ließ seine 16-jährige Tochter, die inzwischen Rokeya als ihre Mutter anerkannt hatte, in das Haus seiner Ex-Frau umziehen. "Endlich konnte ich sie in meine Arme schließen", sagt Rokeya, auch heute noch sichtlich gerührt von der Erinnerung.
Montag: Die Mitarbeiter des "Projekts zur Verhinderung von Frühehen", vorwiegend Frauen, versammeln sich in Rokeyas Büro. Rokeya möchte wissen, wie die Auswahl der Teilnehme-rinnen der neuen Handwerkskurse verlaufen ist. "Dieses Projekt ist mein Leben", sagt Rokeya und weiß genau, wovon sie spricht. "Ich möchte diesen Mädchen die Chance geben auf eige-nen Beinen zu stehen." Die Atmosphäre ist angespannt, den Mitarbeitern merkt man die Ehr-furcht vor ihrer Chefin an. Einige schüchtern, andere schon selbstbewusster, tragen sie die Probleme und Erfolge der letzten Wochen vor.
Dienstag: Die Ventilatoren rotieren unaufhörlich, alle Fenster sind weit aufgerissen und es bleibt dennoch stickig. Vierzig Mitarbeiter lauschen seit einer Stunde dem Vortrag über die mehr als sechzig SUS-Schulen. Alle zwei Monate werden die Ergebnisse aller Schulen bei einem überregionalen Treffen zusammengefasst und diskutiert. "Ich versuche zwar auch zu den lokalen Mitarbeitern persönlichen Kontakt zu halten, aber oft reicht die Zeit nicht", sagt Rokeya. Um zwei Uhr fangen die ersten an zu murren, es sei Zeit fürs Mittagessen. "Wir zie-hen den Punkt jetzt noch durch", bestimmt Rokeya energisch. Keine Widerrede. Nach dem Lunch geht es weiter bis in die frühen Abendstunden.
Mittwoch: Rokeya erhält einen Anruf von einem einflussreichen Politiker. Solche Anrufe bedrücken und machen wütend. Der Politiker möchte verhindern, dass Sabalamby einem Ver-gewaltigungsfall weiter nachgeht. "Wir werden oft unter Druck gesetzt", sagt Swapan, der das Menschenrechtsprojekt leitet.
Die Familie hat gerade zu Abend gegessen, da erscheint wieder einmal überraschend Besuch. Eine Frau bittet an der offenen Tür von Rokeyas Haus um Eintritt. Ihre Zähne sind nur noch Stümpfe und ihr Sari zerrissen. Sie hat all ihren Mut zusammengenommen und ist eine Stunde gelaufen, um sich bei dieser starken Frau, von der sie gehört hat, Rat zu holen. Sie sei sehr krank, aber ihr Mann schlage sie weiterhin, manchmal bis zur Bewusstlosigkeit, sie wisse nicht mehr weiter. Auch wenn solche Fälle zur Realität Bangladeschs gehören, schockieren sie immer wieder aufs Neue.
Donnerstag: Eine neue Mitarbeiterin wird gesucht, und Rokeya befragt eine Bewerberin. Als die Stelle frei wurde, bekam Rokeya Anrufe, von einflussreichen Vätern, Onkeln und Großvä-tern aus Netrakona, die ihren Verwandten einen Job verschaffen wollten. "Manchmal drohen sie mir sogar, würde ich ihrem Wunsch nicht nachkommen", sagt sie. Die Fluktuation von Mitarbeitern ist bei SUS, wie bei vielen NGOs, hoch. Regierungsjobs und Stellen in Dhaka sind oft lukrativer. Aber die lokalen Mitarbeiterinnen haben ganz andere Probleme: "Mein Vater wird mir nicht erlauben, alleine Dorfbesuche zu machen", sagt die Bewerberin. Auch wird Frauen nach der Heirat oft ganz verboten zu arbeiten. "Gegen diese traditionellen Vor-stellungen kommen auch wir nur schwer an", resigniert Rokeya.
Freitag: Es ist eigentlich Ruhetag in Bangladesch, doch "Rokeya hat keinen Freitag", sagt Dilu, enger Vertrauter Rokeyas und Leiter der Finanzabteilung. Auch wenn das Büro heute geschlossen bleibt, hört die Arbeit niemals auf, man trifft sich am Nachmittag bei der Veran-staltung einer anderen großen Organisation. Privates und Berufliches ist nicht zu trennen. "SUS ist nicht nur Arbeitsstätte. Wir sind auch eine große Familie", erklärt Rokeya ein wenig stolz. Man tauscht sich aus - über die letzte Woche und über das, was kommen wird, in der nächsten Woche und den Wochen danach.