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Ein Stückchen Zukunft

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Es ist unglaublich heiß. Ich stehe in der Mitte eines heruntergekommen wirkenden Raums irgendwo in Panjbibi. Die Luft ist stickig. Von der Decke tropft es alle zehn Sekunden auf meinen Kopf, doch ich lasse mich nicht beirren und singe etwas peinlich berührt weiter mein Lied, umringt von 15 Augenpaaren, die mich von oben bis unten mustern, lachen und im Takt des Kinderlieds klatschen. Das hatte ich für heute eigentlich nicht geplant.

Es ist 9:22 Uhr. Ich warte seit 22 Minuten auf dem Hof meiner NGO Ashrai, bei der ich ein Jahr im Distrikt Joypurhat im Nordwesten Bangladeschs arbeiten und leben werde. Nach einem Einführungsmonat in Dhaka sind es nun die ersten Wochen in meiner Arbeitsstelle, in denen ich verschiedene Projekte anschaue und mich einarbeite. Heute fahre ich mit einem Mitarbeiter in die Arbeitsregion Panjbibi, um mir ein Bild von dem von NETZ unterstützten Projekt "Ein Leben lang genug Reis" zu machen.

Das Projekt hilft den Ärmsten der Armen, den Menschen, die als chronisch unterernährt gelten. Sie nehmen weniger als 1.805 kcal pro Tag an Nahrung zu sich und müssen mit weniger als 1 Euro täglich überleben. Diese Familien bekommen durch ein von der Organisation ausgezahltes Startkapital in Höhe von umgerechnet 65 Euro, mit denen Milchkühe, Ziegen, Hühner oder auch die Ausstattung für einen Laden gekauft werden, die Chance, auf Dauer ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften und sich so eine Lebensgrundlage zu schaffen. Sobald ein regelmäßiges Einkommen erzielt wird, zahlen sie einen Teil des von der NGO gegeben Geldes zurück und weitere Familien profitieren.

Mit diesem Projekt werden gerade die Mütter angesprochen und in die Verantwortung genommen. In verschiedenen Schulungen lernen sie unter anderem, sich in Dorfgruppen zu organisieren und Grundsätze über Hygiene, Tierhaltung, Gemüseanbau und Katastrophenvorsorge. Jede Dorfgruppe wählt ein oder zwei Frauen aus, die sie vertreten und an zusätzlichen zweitägigen Schulungen im Jahr mitmachen. Insgesamt nehmen 803 Frauen und ihre Familien, verteilt auf 57 Dorfgruppen mit jeweils 10-20 Mitgliedern, in der von Ashrai unterstützten Region an dem Projekt teil.

Ich bin sehr gespannt, denn heute findet eine Schulung für die von den Dorfgruppen gewählten Frauen statt. Als der Mitarbeiter meiner NGO, mit dem ich heute mitfahre, endlich mit der typisch bengalischen Gelassenheit auf den Hof gefahren kommt, geht es dann auch schließlich los. Im Damensitz muss ich auf dem Motorrad sitzen, etwas anderes wäre für Frauen hier undenkbar. In Gedanken bei den schmalen schlammigen Feldwegen und dem Fahrstil der meisten Männer hier, blicke ich der Fahrt etwas skeptisch entgegen - doch eine andere Möglichkeit gibt es schließlich nicht. Wie sich herausstellt wird die ganze Fahrt auch, nach zwei Tagen anhaltenden Regen, wie erwartet eine einzige Qual. In meiner Fantasie liegen wir schon dreimal im Graben. Doch letztendlich geht alles gut und ich werde durch den Blick auf die wunderschöne Landschaft mit ihren unglaublich grünen Reisfeldern entschädigt.

In Panjbibi angekommen fahren wir zu einem kleinen Trainingscenter, aus dem schon ausgelassenes Gelächter und Stimmengewusel zu hören sind. Wir betreten den Raum, indem es permanent von der Decke tropft und schon 15 Frauen, in kunterbunte Saris gehüllt und oft mit Baby auf dem Arm, sitzen und auf den Beginn der Schulung warten. Alle Frauen gehören zur indigenen Minderheit der Adivasi, einer wirtschaftlich, sozial und kulturell benachteiligten Volksgruppe Bangladeschs. Adivasi besitzen eigene Sprachen, beispielsweise Shatri, und leben in kleineren Gemeinschaften zusammen. Viele ihrer Mitglieder gehören zu den Ärmsten des Landes.

Auch vier Mitarbeiter von Ashrai sind da. Sie werden abwechselnd verschiedene Vorträge halten und mit den Frauen über Probleme und Möglichkeiten im Projekt sprechen. Doch zuerst gehört die Aufmerksamkeit ganz mir. Ich werde von Kopf bis Fuß gemustert und mit Fragen bombardiert, von denen ich nicht einmal die Hälfte verstehe. Ich setzte mich schnell in eine Ecke und ein Mitarbeiter erklärt mir den Plan für heute. Die Hauptthemen sind Bengalisch lesen und schreiben, die Rolle als Frau im Projekt, Regeln der Organisation, Problemlösungen und Kommunikation mit der NGO und Regierungsinstitutionen, um Gewalt und Unrecht zu bekämpfen.

Schließlich beginnt die Schulung, 16 Namensschilder sind an die Tafel gepinnt und jede Frau soll der Reihe nach aufstehen, sich ihr Namensschild heraussuchen und etwas über sich sagen. Danach gibt es immer schallenden Applaus. "So sehen wir einerseits die Erfolge, die die Frauen im lesen gemacht haben und anderseits steigert freies Sprechen vor einer Gruppe ihr Selbstbewusstsein", erklärt mir Hassan, einer der Mitarbeiter. Auch ich muss mein Namensschild heraussuchen, ein paar Sätze über mich sagen und bekomme dafür Applaus. Die Stimmung ist toll und man merkt, wie viel Spaß die Frauen an der Schulung haben.

Nach der Vorstellungsrunde steht eine besonders selbstbewusste Frau auf und sagt, dass sie gerne für mich singen würde und so beginnt sie, ein Volkslied auf Shatri darzubieten. Alle stimmen ein und klatschen im Takt. Ich ahne böses und so kommt es dann auch. Ich werde aufgefordert ein typisch deutsches Lied zum Besten zu geben. Da mir nichts Besseres einfällt und ich schlecht nein sagen kann, stelle ich mich also in die Mitte des Raums und singe "Alle Vöglein sind schon da". Das freut sie offensichtlich ebenso, wie das einheimische Lied und so wird auch bei mir geklatscht. Danach beginnt das Training. Zuerst wird über verschiedene Probleme geredet, alle Frauen machen mit, beteiligen sich an verschiedenen Diskussionen und auch in den Einheiten merkt man, dass die Frauen viel aus den Schulungen mitnehmen.

Irgendwann ist Pause. Mir ist es peinlich, dass mir Tee, Kekse und kaltes Wasser gereicht werden, während die Frauen nur einen Apfel bekommen. Die Privilegien, die mir als Gast zuteil werden, sind mir oft extrem unangenehm. Aber für die Frauen hier scheint diese unterschiedliche Behandlung natürlich. Ich gebe die Kekse den Kindern und befasse mich mit meinen Nachbarinnen, die sich über die Aufmerksamkeit sehr zu freuen scheinen. Ich frage sie, was sie von dem Projekt halten. "Wir haben gelernt, dass wir zusammen als Gruppe viel mehr Macht haben, als eine von uns allein. Wir haben viel mehr Chancen uns gegen Gewalt zu verteidigen und unser Recht einzufordern", meint eine Frau und die anderen nicken. Ich bin beeindruckt.

Leider müssen wir auch schon wieder viel zu schnell fahren und so sitze ich erneut auf dem Rücksitz des Motorrads und bin überwältigt von diesen selbstbewussten Frauen, die gelernt haben, für ihr Recht einzutreten und mit ruhigem Gewissen und Freunde von der Zukunft sprechen.

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