Ein paar Nüsse sind Hoffnung
Der Park des Mondlichtes, im bengalischen „chandrima uddan“, im Zentrum von Dhaka ist eine mächtige Parkanlage hinter dem Parlamentsgebäude mit dem Mausoleum des 1981 ermordeten Präsidenten Ziaur Rahman. Vereinzelte hohe Bäume auf der riesigen Wiese des Parks und kleine künstliche Seen geben mir für einen Augenblick die Illusion, an einem anderen Ort zu sein. Dann aber erinnert das pulsierende Rauschen der Metropole im Hintergrund daran, dass der Park nur eine Oase ist.
Ich sitze mit meinem Freund Abdul auf einer Bank und erzähle ihm von Deutschland. Doch unser Gespräch wird ständig unterbrochen. Im Minutentakt bieten uns junge Erdnussverkäufer ihre Nüsse an. Sie sind schätzungsweise 10 bis 16 Jahre alt und tragen die Nüsse in großen Körben. Sie wiegen die Hülsenfrüchte mit kleinen Waagen und verkaufen dann für 10 Euro-Cent ein Tütchen voller Nüsse, das sie sorgfältig aus Zeitungspapier falten. „Erdnüsse essen ist ein beliebter Zeitvertrieb der Bangladeschis“ - erklärt mir Abdul, „sie kosten nicht viel und sind gesund.“
„Wie viel verdient so ein kleiner Erdnussverkäufer am Tag? Reicht es zum Überleben?“ Meine Fragen kann Abdul nicht beantworten. Im Park des Mondlichtes gibt es erstaunlich viel Konkurrenz, das steht fest. Als die nächsten beiden Jungen mit ihren Körben kommen, zeige ich auf die Bank und bitte sie, sich zu uns zu setzten. Abdul übersetzt, dass ich gerne mit ihnen reden möchte.
Suleyman und Russel sind Cousins, sie stammen aus dem Distrikt Brahmanbaria und leben seit drei Jahren in Dhaka. Ihr Alter, das sie selbst nicht kennen, schätzte ich auf 14 Jahre. Suleyman hat Lust zu reden, sein Cousin sitzt schüchtern neben ihm. Er erzählt mir, dass er früher in einem Hotel als Tellerwäscher gearbeitet hat für 6 Euro im Monat. Nachdem das Hotel geschlossen hatte, war er lange Zeit vergeblich auf Arbeitssuche, bis ihn schließlich ein älterer Cousin, mit der Aussicht in Dhaka eine Arbeit zu finden, in die Hauptstadt gelockt hatte. Jetzt verkauft er Nüsse und teilt sich ein kleines Zimmer mit 15 Jungen im Slum von Agargaon, einem Labyrinth aus erbärmlichen Behausungen im Norden Dhakas. Umgerechnet 20 Euro Miete müssen die Jungen monatlich zusammenbringen und wer nichts beiträgt, fliegt raus. Sie kochen selbst, zweimal täglich. Suleyman träumt davon, eines Tages ein eigenes Geschäft zu öffnen. Als ich ihn frage, was er denn verkaufen möchte, weiß er keine Antwort. So weit reicht seine Vorstellungskraft noch nicht. Er erklärt mir, keine Bank könne ihm Kredit geben, denn er hat keinen Personalausweis. Eine Geburtsurkunde habe er auch nicht. Für den bangladeschischen Staat existiert er also nicht.
Auch Russel brachte die verzweifelte Suche nach Arbeit in die Hauptstadt. Früher, als er noch bei seinen Eltern lebte, konnte er eine Koranschule besuchen, doch als seine Eltern vor drei Jahren die Schulgebühren nicht mehr zahlen konnten und er ohne Schule oder Arbeit dastand, hat er sein Heimatdorf verlassen und ist zu seinem Cousin nach Dhaka, in den Slum gezogen.
Russel erzählt mir gerade, dass er durchschnittlich 1 Euro am Tag verdient, als sich ein schlanker Mann mit einem langen Stock neben ihn stellt. Der Junge wird zurückhaltender und verstummt allmählich. Stattdessen beantwortet der Mann meine Fragen. Dem Jungen ginge es gut und er sei glücklich über seine Arbeit, so der Mann mit dem Stock, der behauptet, eine kleine Teebude zu betreiben.
In der Zwischenzeit hat sich eine Traube von Leuten um uns versammelt. Sämtliche Straßenkinder kommen angerannt, ein kleines Mädchen, das Wasserflaschen verkauft, ein alter Bettler, zwei Frauen, die uns eine Schlange in einem Korb zeigen und ein Polizist steht nun auch hinter uns. Abdul und ich beschließen, das Gespräch abzubrechen und zum Mausoleum zu spazieren. Ich mache noch ein paar Fotos von den Kindern, die lachend Grimassen ziehen und gebe den beiden Jungen ein wenig Trinkgeld. Im Weggehen sehe ich aus dem Augenwinkel wie Russel dem Mann mit dem Stock das Geld in die Hand drückt.
Abdul und ich sind schon fast am Mausoleum angekommen, als ein kleiner Junge angerannt kommt. Er hatte vorher unser Gespräch verfolgt und will uns etwas mitteilen. „Russel ist nicht glücklich, das weiß ich“, sagt er. „Ich kenne ihn und weiß, dass er Heimweh hat. Und der Mann mit dem Stock besitzt gar keine Teebude, sondern kontrolliert die Geschäfte der Erdnussverkäufer und sorgt für Ordnung“, übersetzt Abdul. Ismail, so heißt der Junge, zieht eine große Tüte mit lehren Flaschen hinter sich her. „Warum sammelst du leere Flaschen?“ frage ich. „Ich verkaufe sie an einen Mann, der sie wiederum an eine große Firma verkauft. So verdiene ich 15 Taka am Tag“, das sind 15 Cent. „Meine Mutter ist gestorben als sie meinen kleinen Bruder auf die Welt brachte und mein Vater war Fahrer einer Motorrikscha, kann aber seit einem schlimmen Unfall nicht mehr arbeiten. Ich wohne mit ihm und meinen kleinem Bruder im Agargaon-Slum“. Ich frage ihn, warum er keine Nüsse verkauft, wie die anderen Jungen. „Ich habe nicht genug Geld, um mit diesem Geschäft anzufangen“, sagt er. „Deshalb sammele ich Flaschen, um Geld zu sparen. 50 Taka habe ich schon zusammen, mit 500 Taka [5 Euro] kann ich ins Geschäft einsteigen. Dann werde ich erst recht viel Geld sparen, bis ich 10.000 Taka [100 Euro] habe, um einen kleinen Laden zu eröffnen. Dort kann dann mein Vater arbeiten“. Ismail hat schon einen genauen Plan für die nächsten Jahre. Er legt sich auf den Rasen und lässt sich fotografieren. Er lächelt und weiß noch nicht, dass heute ein besonderer Tag für ihn sein wird.
Ich informiere mich weiter über das Geschäft der Erdnussverkäufer, will wissen wie viel es kostet ins Geschäft zu kommen und was man verdienen kann. Ich frage Ismail, ob er keine Angst habe, Erdnüsse zu verkaufen. Der Mann mit dem Stock und die „Mafia“, die das Geschäft kontrolliert, suchen sich ihre Schützlinge genau aus. „Ich habe keine Angst, ich habe schon viele Freunde hier im Park und verteidigen kann ich mich auch“. Ismail ist gerade mal zehn Jahre alt, redet aber wie ein Erwachsener. Ich erfahre, dass Ismail fast sein gesamtes geringes Einkommen abgibt, um die Miete des Zimmers, in dem er mit seinem Vater und dem kleinen Bruder wohnt, zu bezahlen. „Der Mann mit dem Stock macht mir keine Angst, aber die Polizei, die schon“. Ich höre mit Erstaunen, dass die Polizei von jedem Kind im Park, egal ob Bettler, Nussverkäufer oder Schuhputzer, 20-40 Cent am Tag abkassiert. Andernfalls setzt es Prügel.
Wenn Ismail in zwei Monaten gerade mal 50 Cent sparen konnte, wird es über ein Jahr dauern bis er die 5 Euro für die Ausrüstung als Erdnussverkäufer zusammen bringt. Ich möchte ihm helfen und biete ihm an, ihn für seine neue Arbeit auszurüsten. Heute noch wird er seine ersten Nüsse verkaufen.
Die Nüsse, so informiere ich mich, kann man nur bei den Großhändlern am Kawram Bazar kaufen. Es erfordert großen Mut von Ismail mit Abdul und mir in eine Motorrikscha einzusteigen. Flott fahren wir durch Dhakas Verkehr zum bunten und quirligen Kawram Bazar. Auf dem riesigen Markt kann man alles kaufen: von Hühnern über Hausschuhe, gefälschte Markenbrillen bis hin zu Büchern, chinesischen Heilmitteln und frischen Bananen. Wir werden von einem jungen Mann, der sich auskennt, über den Hinterhof in den dritten Stock eines großen Gebäudes geführt. Hier finden wir alles, was wir brauchen: den großen Korb, die Waage und natürlich die Nüsse. Der Gesamtpreis liegt, wie vorgesehen, bei 5 Euro. Ismail schaut mich glücklich an, Geschenke hat er noch nie bekommen. Ich wünschte mir, Ismail könnte mit anderen Kindern spielen und zur Schule gehen. Aber leider lastet auf seinen Schultern schon die Verantwortung für seinen arbeitslosen Vater und den kleinen Bruder. Und daran kann ich beim besten Willen nichts ändern.
Ich begleite Ismail wieder zurück zum Park des Mondlichtes. In einigen Wochen werde ich ihn dort aufsuchen und schauen, wie er zu Recht kommt.