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Dorfbesuch

„Für den Diskurs, und damit für den Menschen, ist nichts angsteinflößender als die Abwesenheit einer Antwort.“
Zitat von Michail Bachtin

Am späten Nachmittag fragt mich ein Kollege, ob ich noch Lust hätte mit ihm in ein Dorf zu fahren und einen Besuch zu machen. Ich bin nicht abgeneigt den Tag nicht als reinen Bürotag enden zu lassen und schalte den Computer aus.

Das Dorf ist ganz in der Nähe, so dass wir mit dem van, einer Art Rikscha fahren können. Dieser hat allerdings statt einer bequemen Sitzbank eher eine Ladefläche, auf der man neben Personen alle möglichen Dinge, wie Reisesäcke und Möbelstücke, transportieren kann.

Im besagten Dorf wollen wir einige der sehr armen Familien besuchen, die in das AMADER-Projekt aufgenommen worden waren. AMADER ist ein Programm mit dem die Situation von wirtschaftlich und sozial benachteiligten Adivasi verbessert werden soll. Bei den Adivasi handelt es sich um die „Ureinwohner“ Bangladeschs. In kultureller, religiöser und sprachlicher Hinsicht weist ihre Lebensform einige Differenzen zur muslimischen Mehrheitsgesellschaft auf. Zumindest im Norden des Landes, dem Gebiet wo Ashrai arbeitet, gehören die Adivasi häufig zu den Ärmsten. In den Monaten zuvor waren meine Kollegen auf der Suche nach den ärmsten Haushalten durch die Dörfer der Umgebung gefahren. In den letzten Tagen war ich oft Zeugin dieses Prozesses geworden.

Im Haus einer Teilnehmerin angekommen sammelt sie gerade herumliegende Blätter zum Feuer machen. Wir werden aufgefordert uns auf eine Matte vor ihr Haus zu setzten. Mein Kollege fängt an ihr einige Fragen zu stellen. „Wie häufig isst ihre Familie?“ „Was gerade da ist“, antwortet sie. „Arbeiten Sie oder ihr Ehemann?“ „Nein.“ „Woher bekommen Sie dann den wenigen Reis, den Sie essen?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Wie viele Kinder haben Sie?“ Ihr kleiner Junge sitzt neben ihr und ein zweites Kind sei auf dem Weg, berichtet sie uns. Ihre Augen bleiben die ganze Zeit auf den Boden gerichtet. Manchmal schweift ihr Blick in die Ferne, jedoch vermeidet sie es die Person anzublicken mit der sie redet. Einmal treffen unsere Blicke sich zufällig, nur für eine Sekunde. Schnell wendet sie ihren Blick wieder ab. Mittlerweile hat sich, wie zumeist, eine große Menge anderer Dorfbewohner um uns versammelt. Wenn ich meine Blicke zwischen ihnen und ihr schweifen lasse wirkt sie noch wesentlich dünner als alle anderen. Plötzlich werden die Stimmen lauter, einige der Umstehenden beginnen einer ihrer Aussagen zu widersprechen. Wenn immer ich dies bisher in anderen Dörfern erlebt habe, wurden die Diskussionen lebendiger und länger, da die Betroffenen den anderen erneut ins Wort fallen und ihren Anspruch auf Wahrheit zu behaupten suchen. Hier ist das nicht der Fall. Sie schweigt und die Nachbarn kommen schnell zu dem Schluss, dass sie nicht viel über sie wissen. Weder sie noch ihr Mann würden gerne reden.

Meine Gedanken schweifen ab. Was braucht es in einem Land um den Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen? Wenn ich eine längere Strecke mit dem Bus fahre entdecke ich unterwegs die Schilder von vielen NGOs. Braucht es mehr NGOs oder weniger? Werden sich internationale Rahmenbedingungen, wie Zölle und Einfuhrbestimmungen jemals ändern? Macht es irgendwas besser oder schlimmer wenn tausende junger Deutscher um die ganze Welt fliegen, um andere Kulturen und Länder kennen zu lernen? Was ermöglicht Veränderung? Brauchen Menschen Bildung und die Erfüllung von Grundbedürfnissen, um für etwas kämpfen zu können? Wie kann man kämpfen, wenn die Macht gegen die man rebellieren könnte nicht klar auszumachen ist? Was macht den Menschen apathisch? Wie können wir alle ökologisch verträglich mit Kühlschrank und zwei Autos leben?

Mein Kollege macht einige Fotos von ihr. Irgendwie habe ich keine Lust es ihm gleichzutun. Generell finde ich es häufig schwierig Fotos von Leuten zu machen. Irgendwie empfinde ich dabei häufig etwas negativ voyeuristisches und sensationshaschendes. Auch wenn ich manchmal den Verdacht haben, dass die Leute, von denen ich Fotos mache, damit vielleicht viel weniger Probleme haben als ich selbst. Heute jedoch kann ich mich nicht davon überzeugen, dass es in Ordnung wäre Sie zu fotografieren. Sie stellt sich überall hin, wo sie sich hinstellen soll, aber im Unterschied zu anderen, die schnell noch in ihre Kleidung zurecht rücken und in die Kamera lächeln wirkt sie wie eine Puppe, die man überall hinstellen kann und die nicht in der Lage ist, nein zu den Fotos sagen zu können.

Als wir heimfahren ist es schon spät geworden, die Dämmerung hat eingesetzt. Trotzdem entscheiden wir uns den ersten Teil des Weges zu Fuß zurückzulegen, da dieses Wegstück so schlecht ist, dass wir auf dem Hinweg von einen Schlagloch ins andere geflogen waren. Als wir Najipur schließlich erreichen ist es schon dunkel.

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