Die Kultur gefällt mir!
1971 wurde im Befreiungskrieg Bangladeschs viel Blut vergossen. Es war ein Konflikt zwischen West- und Ostpakistan, welche durch Indien geographisch weit voneinander getrennt waren. Ostpakistan, das heutige Bangladesch, wollte selbstständig werden und wurde dabei von Indien unterstützt. Am 16. Dezember 1971 endete dieser Befreiungskrieg mit der Kapitulation Westpakistans, heute Pakistan. Bangladesch wurde unabhängig!
Dieser Tag des Sieges, der „Victory Day“ wie er hier heißt, wird hier in Bangladesch stolz zelebriert. Das darf ich mir natürlich nicht entgehen lassen. In Gaibandha, wo ich seit etwa drei Monaten bei der Organisation Gana Unnayan Kendra (GUK) lebe und arbeite, wird dieser denkwürdige 16. Dezember im hiesigen Stadion gefeiert. Als ich dort ankomme, ist der winterliche Morgennebel noch sehr dicht. Ich kann kaum erkennen was sich auf dem großen Platz vor mir abspielt. Als der Nebel langsam dünner wird, erkenne ich hunderte Schüler, die sich in mehrere kleine Truppen aufstellen. Im Nebelschleier sieht dies aus wie ein Ausschnitt aus einem Kriegsfilm. Die Stimmung passt also perfekt zu dem Anlass. Dann geht es los. Nach der Eröffnungsrede fangen die „Truppen“ an zu marschieren. Erst reguläre Militäreinheiten, dann die verschiedenen Schulgruppen nacheinander. Ich will meinen Augen kaum trauen. Ich erschrecke als ich kleine Kinder in Reih und Glied, mit voller Ernsthaftigkeit salutieren sehe. Mir wird bewusst, dass ich mit Krieg sofort den Zweiten Weltkrieg assoziiere, und was für eine grauenhafte Rolle Deutschland dabei spielte.
Doch in diesem Fall ist diese Parade eine sehr schöne Geste, der Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges zu gedenken. Hier ist man unsagbar stolz auf die noch junge Geschichte Bangladeschs. Dies zeigt sich auch in den darauf folgenden Programmpunkten der Schüler. Jede Schule hat drei Minuten Zeit etwas zum Besten zu geben. Am Ende wird eine Schule zum Sieger gekrönt. Tänze werden vorgeführt, akrobatische Einlagen geboten und Kriegsszenen nachgespielt. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. So werden Strohhütten im „Kriegseifer“ in Brand gesetzt, ein Papppanzer schießt mit Krachern um sich und für pantomimische Standbilder sind die Schüler weiß angemalt. Ich bin rundum fasziniert. In den Tänzen der Teilnehmenden kann man den Nationalstolz Bangladeschs deutlich erkennen. Tanzend verkörpern Sie das Kriegsdenkmal und stellen die landestypische Seerose im Wasser, dass die Kinder eindrucksvoll mit einer Art La-Ola-Welle nachahmen, dar.
Ich merke erneut, wie ich diese Kultur bewundere. Und dass mir solch ein Nationalbewusstsein mit Traditionen, über Heimatfeste und den örtlichen Musikverein hinaus, in Deutschland fehlt. Der „Victory Day“ wird hier im ganzen Land gefeiert. Er geht wohl an keinem Menschen in Bangladesch unbewusst vorbei. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, wann ich einmal den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober gebührend gefeiert habe. Dieses Jahr habe ich ihn sogar ganz vergessen. Kenne ich überhaupt jemanden der ihn feiert? Und wie feiert man den? Bei meinen Schulbesuchen bewundere ich jedes Mal die gemeinsamen Lieder und Tänze, die fast jedes Kind beherrscht. Als ich zum ersten Mal zum Singen aufgefordert wurde hatte ich große Probleme ein typisch deutsches, schönes Lied zu finden, geschweige denn einen Tanz. Mittlerweile gebe ich meine alten Religionslieder zum Besten. Der Nationalstolz hier fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Stolz auf das eigene Land den Menschen hier hilft den täglichen Überlebenskampf mit mehr Mut zu meistern.