Die Gesichter der Armut

Was genau bedeutet es für Menschen in Bangladesch eigentlich arm zu sein? Wie sieht deren Lebensrealität aus? Wie geht es jemandem, der nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen kann? Wahrscheinlich ist es leichter einen Pudding an die Wand zu nageln, als diese Fragen pauschal zu beantworten.
Armut hat unzählige Gesichter! Sie kommt daher mit dem unschuldigen Gesicht eines Kindes, das auf den Straßen Dhakas betteln muss oder mit dem ausgemergelten Gesicht eines unterernährten Mannes, der seit Tagen nichts gegessen hat. Man sieht sie in dem vor Euphorie strahlenden Gesicht der auf der Schwemmlandinsel lebenden Frau, die stolz von ihrer ersten Gemüseernte erzählt, aber trotzdem noch nicht auf drei Mahlzeiten am Tag kommt, aber auch im Gesicht des NGO-Mitarbeiters, der im ganzen Land im Kampf gegen die Armut anzutreffen ist. Das Schweiß überströmte Gesicht des Rikschafahrers, der während der Dürremonate seine Familie auf dem Land zurücklassen muss, um im Chaos des Großstadtverkehrs Geld zu verdienen. Der Lokalpolitiker, der neben seinem dünnen Gehalt Gelder in die eigene Tasche fließen lässt, zeigt, welche hässlichen Züge das Gesicht der Armut annehmen kann. Das wird von den Dollarzeichen in den Augen des skrupellosen Unternehmers bestätigt, den die attraktiv geringen Löhne Bangladeschs angelockt haben, wie das Licht die Motten.
Die Liste ließe sich um hunderte Punkte ergänzen und trotzdem wäre sie nicht annähernd vollständig. Dabei lässt sich die Armut Bangladeschs doch so schön in Zahlen verdeutlichen: 32 Millionen Menschen leben in extremer Armut, ein Drittel der Bevölkerung Bangladeschs fristet ein Leben unterhalb der Armutsgrenze, 39,5 Prozent der Kinder unter fünf Jahren waren 2007 unterernährt. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Bangladeschs liegt bei 684 US-Dollar pro Jahr, etwa 20 Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und so weiter und so fort.
Aber was genau sagt uns der Blick auf diese Zahlen eigentlich? Über die Millionen Gesichter, die sich dahinter verbergen, sagen sie nichts. Was bedeutet es für Menschen auf dem Land arm zu sein? Was für die Menschen in den großen Städten? Und was für die Menschen auf den Schwemmlandinseln? Was bedeutet es für Jung und was für Alt? Was für Frau und was für Mann? Was bedeutet es für einen Menschen mit Behinderung, in Bangladesch mittellos zu sein? Was bedeutet es für einen Muslim und was für einen Hindu? Was bedeutet es für jemanden, der nie etwas gehabt hat und was für den, dessen Haus von der letzten Flut weggerissen wurde? Was bedeutet Armut im Sommer? Was bedeutet sie im Winter? Was in der Regenzeit? Was bedeutet es für Identität eines jeden Bangladeschis, dass sein Land als eines der ärmsten dieser Erde gilt? Wie sehen all diese verschiedenen Lebensrealitäten aus?
In den nächsten Tagebucheinträgen möchte ich darum Menschen oder Gruppen, mit denen ich zusammenarbeite, die ich in meiner Zeit in Bangladesch kennen gelernt habe oder die mir im alltäglichen Leben begegnen, mit samt ihren Lebensbedingungen vorstellen. Mir gefällt diese Annäherung an das Thema „Armut“, da ich es wichtig finde, den Menschen, die sich hinter dem Begriff verbergen ein Gesicht, nein, viele Gesichter zu geben.