Die Entdeckung der Langsamkeit

Als Europäerin hat man sich im Laufe seines eigenen Lebens an eine gewisse Grundgeschwindigkeit gewöhnt: Alles muss sofort und schnell passieren, denn jede Minute die man länger an der Bushaltestelle oder am Bahngleis steht, wird als Verschwendung kostbarer Lebenszeit gesehen. Gleichzeitig bietet der aufkommende Frust, wenn eben nicht alles sofort und gleich passiert, eine willkommene Gelegenheit, sich über die schreckliche Zeitverschwendung zu beschweren.
Hier in Bangladesch ticken die Uhren anders. Man ergibt sich hier klaglos den äußeren Umständen und findet sich mit der bestehenden Situation ab. Meistens jedenfalls. Ein Beispiel ist sicherlich der unglaubliche Verkehr (besonders in der Hauptstadt Dhaka). Die Straßen sind überfüllt mit Rikschas, Bussen, Autos, kleinen gasbetriebenen Autorikschas und einigen wenigen todesmutigen Fahrradfahrern. Alle zusammen geben sie sich die größte Mühe ein einzigartiges Konzert mit ihren Klingeln und Hupen zu inszenieren, welches einem jeden Tag mit Enthusiasmus entgegenschallt. Besonders zu den Hauptverkehrszeiten können sich die Straßen in bunte Standbilder verwandeln, die dazu führen, dass verhältnismäßig kurze Strecken zu Tagesreisen werden. Man wird genötigt wesentlich mehr Zeit für den Transport von A nach B einzuplanen. Distanzen verlieren an Relevanz; das einzige was bei der Kalkulation zählt, ist die Zeit, die man letztendlich braucht.
Doch die täglichen Staus sind auch eine wunderbare Gelegenheit sich seine neue Umgebung genauer anzuschauen. So bewundert man die Farbenpracht der Saris sowie die Händler mit ihren Sträußen lebender Hühner, die kopfunter etwas resigniert vor sich hin gackern. Gleichzeitig wird man oft mit neugierigen Blicken bedacht und nur die ganz Mutigen rufen einem ein lautes „Your Country?“ – „aus welchem Land kommst du?“ – zu.
Im Gegensatz zu den fast gemütlichen Szenen in den kleineren Straßen, schlängeln sich in den Hauptverkehrsstraßen fliegende Händler durch die Blechlawinen, die von Popcorn und Zuckerwatte, über Blumen und Tupperware mitunter sogar Erziehungsbroschüren verkaufen wollen. Manchmal möchte man gar nicht hinschauen, denn die Verkäuferinnen und Verkäufer befinden sich so gefährlich nah an den vorbei rasenden Bussen und Autos, die keine Rücksicht auf Fußgänger nehmen. Plötzlich ist es geschehen: die chaotisch-pittoreske Seite der Stadt wird von der hässlichen Grimasse dieser Megacity verdrängt. Die Farben verschwinden und die traurigen Gestalten zwischen den Ständen und Bordsteinen treten in den Vordergrund. Zwischen den Pfeilern der Fußgängerbrücken liegen sie auf dreckigen Bastmatten und versuchen sich mit Tüchern vor Staub und Fliegen zu schützen – vielleicht auch vor den Blicken der anderen. Die Stadt rast an ihnen vorbei und man selbst mit ihr. Schon lange sind sie aus dem Blickfeld verschwunden, aber man weiß dass sie da sind.
Entschleunigung ist nicht nur die Einschränkung der Geschwindigkeit, sondern beinhaltet auch eine gewisse Form des Fatalismus. Schnell geht es nur für denjenigen, der eine Aufgabe hat. Er unterliegt dem Rhythmus der Stadt. Wer jedoch ohne diese ist, ist zwangsläufig zur Untätigkeit verdammt und damit dem Schicksal ausgeliefert. Den Tag erwarten und dafür sorgen, dass der nächste kommt. Nicht freiwillig, sondern aus körperlicher Schwäche, bedingt durch Unterernährung und durch die allgegenwärtige Armut. Und plötzlich, von einem Moment zu dem anderen wird Zeit und Geschwindigkeit irrelevant und die Realität des Lebens in dieser Stadt wird sichtbar.
