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Der Wert eines Menschenlebens

Eine der interessantesten Unternehmungen war eine Bootsfahrt auf dem Fluss Buriganga, der durch Dhaka fließt. Gemeinsam mit Felix fuhr ich zum Altstadthafen. Dort flanierten wir zunächst über die Landungsbrücken, anschließend mieteten wir uns eines der typischen kleinen Boote, die ein wenig an die venezianischen Gondeln erinnern. An sich eine ganz romantische Angelegenheit, zumal wir in den Sonnuntergang hinein fuhren. Aber Dhaka hat nicht einmal den geringsten Hauch von Venedig. Das Buriganga-Ufer ist durchweg einfach nur hässlich zugebaut und der Fluss selbst ist massiv verschmutzt. Immerhin war der Sonnenuntergang trotz des Smogs einigermaßen schön anzusehen, aber wirklich schön war er nicht. Die Bootsfahrt allerdings hatte es in sich. Schon als wir das Gelände betraten, wo die Boote vermietet wurden, stürzten einige "Gondolieri" auf uns zu, wohl in der Hoffnung auf ein gutes Geschäft. Erstaunlicherweise wurden uns gleich faire Tarife angeboten. Schließlich zahlten wir für eine Stunde Fahrt nur 50 Taka (ca. 0,80 Cent) pro Person. Schon beim Verlassen der kleinen Bucht touchierten uns mehrere andere "Gondeln", wir blieben aber trocken. Auf dem Fluss rammten uns dann noch zwei große, motorbetriebene Boote. Eines davon hatte uns offenbar gezielt gerammt, und obwohl unser Boot ziemlich schwankte, stürzte unser "Gondoliere" erbost nach vorne und brachte uns dabei fast zum Kentern. Der Schreck saß jedenfalls tief.

So verdreckt der Buriganga auch ist, für die Menschen, die entlang des Flusses leben und arbeiten, ist er überlebenswichtig. An den Ufern sahen wir Menschen, die im Fluss badeten, darin schwammen, ihre Wäsche wuschen, ihn als Toilette benutzten und daraus Wasser zum Teekochen holten. Hier und da wurden irgendwelche Abwässer eingeleitet und einiger Müll schwamm an uns vorbei. Skuril waren auch die Schiffe, die auf dem Fluss fuhren. Meistens waren sie heillos überladen, verrostet und schienen museumsreif, aber irgendwie hielten sie sich über Wasser.

Ein paar Tage nach der Bootsfahrt habe ich eine Slumschule in Dhaka besucht, die von der Entwicklungshilfeorganisation Jagorani Chakra unterhalten wird, für die ich demnächst in Darzsana arbeiten werde. Am Eingang begrüßte man mich mit Blumen und Bonbons, anschließend wurde ich durch alle Klassen geführt. Die Kinder wirkten wie dressiert. Stets wenn ich den Raum betrat, sprangen alle auf und begrüßten mich. Dann wurde der Unterricht fortgeführt und nach ein paar Minuten sangen die Kinder für mich ein Lied zum Abschied. In einer Klasse führten zwei Mädchen sogar einen Tanz auf. Natürlich war stets jemand von der Organisation in der Nähe und machte Fotos von meinem Besuch in den einzelnen Klassen. Eigentlich hatte ich mir nur kurz einen Eindruck verschaffen wollen. Aber wie immer in diesem Land, dauerte auch das wieder länger als geplant, nämlich den ganzen Vormittag. Immerhin gelang es mir im anschließenden Gespräch mit dem örtlichen Projektkoordinator einen Termin zu vereinbaren, um in den Slums des Stadtteils Textilarbeiterinnen für die NETZ-Zeitschrift interviewen zu können.

Auch die Recherche im Slum verlief nicht wie geplant. Kathrin und ich trafen gegen 10 Uhr morgens in der Schule ein, wo wir schon von vier Angestellten der Organisation erwartet wurden. Dann ging es zu Fuß weiter in das nahe gelegene Slumgebiet. Eigentlich hatte ich durchschnittliche Arbeiterinnen in einem durchschnittlichen Slum treffen wollen und dies auch so vereinbart. Was wir allerdings zu sehen bekamen, war einer der besten Slums der Stadt. Im Gegensatz zu normalen Textilarbeiterinnen waren diejenigen, welche wir trafen, relativ gut gestellt. Stromanschluss und Möbel sind in den Slums kein Standard, ebenso wenig stabile Bambus- oder Steinhäuser; in diesem Slum war dies jedoch vorhanden. Trotzdem waren die Informationen für NETZ interessant, so dass die Recherche immerhin etwas gebracht hat.

Ein ziemlich skuriles Erlebnis hatten Felix und ich vor ein paar Tagen in der Altstadt. Eigentlich wollten wir das Lalbagh-Fort aus der Moghul-Zeit und den Pink Palace aus der britischen Kolonialzeit besichtigen, aber wir kamen in beide nicht hinein. Das Lalbagh-Fort hatte ganz geschlossen und der Pink Palace schloss ausgerechnet an jenem Tag seine Pforten etwas früher als sonst. Etwas frustriert wollten wir schon weiter gehen. Doch dann sahen wir eine vierköpfige Einheit des "Rapid Action Batalion" (RAB) auf uns zukommen.

Das RAB ist eine Spezialeinheit der Polizei, die vor ein paar Monaten neu geschaffen wurde. Ihre Angehörigen sind komplett in schwarz gekleidet, mit schwarzem Kopftuch, und in der Regel mit einer AK-47 bewaffnet. Jeden Morgen kann man in der Zeitung lesen, wie viele Kriminelle das RAB in der letzten Nacht getötet hat. In den Schlagzeilen heißt es dann immer "died in crossfire" oder "died in a shootout with gang members". Interessanterweise sind es aber nicht immer Kriminelle, die auf freiem Fuß sind. Manche sterben auch im Kreuzfeuer während eines Gefängnistransportes oder einer Tatortbesichtigung. Seit Juni 2004 hat das RAB insgesamt 65 Menschen getötet. Inzwischen bleiben sogar Topkriminelle freiwillig im Gefängnis, weil sie fürchten, demnächst vom RAB getötet zu werden. Das titelte jedenfalls vor ein paar Tagen die Zeitung "Daily Star".

Als die RAB-Einheit uns erreicht hatte, hielt ich einen kurzen Smalltalk mit dem Gruppenführer. Anschließend gingen sie weiter auf das Gelände des Pink Palace. Kaum waren sie drin, bedeuteten sie uns per Handzeichen, ihnen zu folgen. Der Wachmann am Eingang schrie uns an, als wir passierten, weil der Pink Palace schon geschlossen war und er uns kurz zuvor erst abgewiesen hatte. Ich machte eine Kopfbewegung in Richtung der RAB-Einheit. Es bedurfte nur eines Fingerzeiges und der Wachmann schwieg sofort, ließ uns hinein und zog sich zurück. Eine reine Machdemonstration. Etwas komisch war uns schon zumute, aber jetzt mussten wir mitspielen. Der Gruppenführer fragte uns, woher wir kommen, was wir machen, usw. Wir hatten auf der ganzen Rückfahrt fast kein anderes Gesprächsthema mehr, als diese Begegnung.

Auf der Rückfahrt mit dem Bus wurden wir dann noch Zeugen eines ziemlich üblen Ereignisses. Kurz vor Shyamoli hörten wir plötzlich einen dumpfen Schlag. Alle Fahrgäste sprangen in heller Aufregung auf. Der Junge, der das Geld kassiert, stürzte nach hinten durch. "Unfall, Unfall", riefen einige laut. Unser Bus hatte soeben einen Menschen überfahren. Anstatt anzuhalten fuhr der Busfahrer jedoch einfach weiter. Wir konnten es kaum glauben. Eben erst hatte er einen Menschen überfahren, und trotzdem fuhr er einfach weiter, als sei nichts geschehen. Aber ein Menschenleben zählt hier nicht viel.

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