Der Terror - ganz nah
Ich sitze in Dhaka und frage mich, ob es richtig ist, hier zu sein. Alles scheint so unwirklich und das Einzige, was ich tun kann, ist das hier aufzuschreiben.
In Netrakona haben sich am Donnerstag, dem 8. Dezember 2005, zwei Selbstmordattentäter vor dem "Udici"-Büro, einer kulturellen Organisation, die schon 1999 Ziel eines Anschlags war, in die Luft gesprengt und fünf Menschen mit in den Tod gerissen. Drei weitere starben später im Krankenhaus. Es gibt mehr als 50 Verletzte. Das Ganze ist 200 Meter von meinem Haus entfernt passiert. Ich war um halb elf Uhr morgens, als die Bombe explodierte, auf dem Balkon. Ich hörte nur einen lauten Knall und ging auf das Dach neben meinem Zimmer, konnte aber nichts auf der Straße sehen. Irgendwie habe ich trotzdem gemerkt, dass etwas nicht stimmte und im Nachhinein denke ich, dass wir unserem Unterbewusstsein oft nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Ich wunderte mich dann auch, dass es einige Stunden weder Strom noch Wasser gab.
Um ca. 13 Uhr ging ich ins Büro von Sabalamby, meiner Organisation, das etwa 10 Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt liegt. Auf dem Weg traf ich eine Mitarbeiterin, die mir von der Bombe erzählte, ich war nicht besonders erschüttert, weil ich das Ganze noch gar nicht realisierte. Mir fing erst zu dämmern an, was passiert war, als ich die ersten Telefonanrufe bekam, ob es mir gut ginge. Die Stimmung bei Sabalamby war sehr gedrückt, der Schwager einer Mitarbeiterin war getötet worden. Das Büro wurde geschlossen. Ich sollte sofort in meine Wohnung zurückgehen und sie nicht mehr alleine verlassen.
Die Attentäter sind Mitglied der JMB, einer islamistischen Organisation, die islamisch fundamentalistisches Recht (wie die Fatwas) in Bangladesch fordert und gegen alles "unislamische", wie eben Theateraufführungen und Kulturarbeit, vorgeht. Die JMB ist auch für andere Anschläge, die es in den Wochen vor dem Netrakona-Attentat gab, verantwortlich. Der Anschlag in Netrakona ist insofern anders als dass nicht mehr gezielt Richter oder Polizisten angegriffen werden, sondern unschuldige Menschen, und möglichst viele, getötet werden sollten.
In Netrakona war es am Donnerstagabend gespenstisch still, die Menschen waren sehr schockiert und hatten Angst. Die meisten Läden machten zu. Da ich ja nicht rausgehen durfte und es auch nicht wollte, habe ich nichts von dem Schreckensort gesehen und auch die Situation in der Stadt nicht. Mir wurde gesagt, dass überall Polizei und RAB, das ist eine Spezialeinheit, unterwegs sei.
Donnerstagabend gingen wir zu Nachbarn, die eine Satellitenschüssel hatten, denn die normalen Leitungen in dieser Gegend sind durch den Anschlag defekt. So konnten wir die Nachrichten sehen. Die anderen im Raum kannten alle Verletzten und sagten ihre Namen. Eines der Opfer war einige Tage vorher in diesem Haus zu Gast gewesen. Er habe gesagt: "Unser Land hat durch das Blut seiner Leute 1971 die Unabhängigkeit erlangt. Wenn es nötig ist, muss man jetzt auch mit seinem Leben für das Land und gegen die Fundamentalisten kämpfen." Aber wem hilft das denn, wenn man stirbt?
Niemand weiß, wer alles Mitglied der JMB ist, sie scheinen gut organisiert zu sein und gehen über Leichen. Die Anschläge nehmen leider zu, am Donnerstag allein wurden laut dem "Daily Star", einer großen Tageszeitung, an fünf anderen Orten in Bangladesch auch Bomben eingesetzt, alle von der JMB. Außerdem gibt es vermehrt Drohbriefe an lokale Regierungsmitarbeiter, Journalisten, Bildungseinrichtungen und NGOs.
Ich selbst war sehr betroffen, vor allem, weil eine Bekannte, die im Krankenhaus von Sabalamby arbeitet und früher Schauspielerin war, zwei ihrer besten Freundinnen, mit denen sie in einer Theatergruppe spielte, verloren hat. Ich habe Freitagmorgen mit ihr telefoniert, sie war gerade auf dem Weg ins Krankenhaus der Nachbarstadt, in das ihre eine Freundin Shelly eingewiesen wurde. Die andere war sofort bei der Explosion gestorben. Meine Bekannte ist mit Shelly zusammen aufgewachsen, sie wohnten bis vor kurzem nebeneinander. Shelly hat beide Beine und einen Arm verloren. Mittags war ich zum Essen in mein Nachbarhaus eingeladen, weil ich nicht in ein Restaurant oder zum Einkaufen ins Zentrum der Stadt gehen sollte. Dort wurde mir gesagt, dass gerade eine Frau verstorben sei. Ich fragte nach ihrem Namen und wusste eigentlich schon, dass es Shelly war. Ich rief sofort bei meiner Bekannten an in der Annahme, dass sie am Sterbebett ihrer Freundin war. Sie wusste noch nichts von ihrem Tod. Sie konnte gar nicht mehr reden, sie weinte nur noch. Nachmittags rief ich sie dann noch einmal an, aber es war sehr schlimm, Shelly war eine sehr enge Freundin, auch der ganzen Familie. Meine Bekannte machte sich gestern, als ich mit ihr telefonierte, Vorwürfe, nicht länger im Krankenhaus geblieben zu sein. Sie erzählte mir, dass ihre Freundin ihr etwas sagen wollte und sie gemeint hätte, sie solle nicht sprechen, weil sie so schwach sei und sie würden später reden. Ein Später gab es nicht mehr.
Freitagabend wusch meine Bekannte nach Hindu-Tradition, sie und ihre Freundin sind beide Hindus, den Körper der Toten und kleidete sie in einen Sari. Dann wurde der Körper verbrannt. Es waren 200 Splitter in ihrem Bauch. Es ist schrecklich, das Leid der Menschen so nah mitzubekommen und ich habe eine unglaubliche Wut. Wenn in der Zeitung steht, es habe 30 Tote bei einem Anschlag in Bagdad gegeben, berührt mich das mittlerweile nicht mehr, weil ich so abgestumpft bin. Aber das hier ist unfassbar, es kann doch gar nicht passiert sein.
Wir Freiwilligen sind alle aus Sicherheitsgründen nach Dhaka zurückgeholt worden. Es gehen mir sehr viele Dinge im Kopf herum, ich möchte den Menschen so gerne helfen und weiß, dass ich nichts tun kann. Ich kann nicht sagen, wie sich das alles entwickelt und ob auch meine Organisation gefährdet ist. Sabalamby vertritt "unislamische" Ziele wie die Durchsetzung von Frauenrechten und die Stärkung ihrer Position in der Gesellschaft. Der Gedanke "mich wird es schon nicht treffen" ist auch jetzt noch nicht aus meinem Kopf heraus und das ist trügerisch. Das Problem ist auch, dass ich das Ganze nüchtern betrachten muss und mich nicht von Emotionen mitreißen lassen darf: Wie sicher bin ich hier noch? Kann ich noch normal arbeiten? Ich muss hier nicht die Heldin spielen. Dazu neigt man glaube ich in so einer Situation: sich zu solidarisieren, zu denken: "Jetzt erst recht", "Ich lasse euch nicht im Stich". Aber letztendlich hilft man keinem hier, wenn man das eigene Leben aufs Spiel setzt.