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Der Mittelpunkt der Abgeschiedenheit

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Zum zweiten Mal bin ich unterwegs nach Shadratali, einem Dorf im Schwemmlandinsel-Gebiet Tepa Modhupur. Das erste Mal war ich dort im Herbst letzten Jahres. Die Strecke von unserem Büro aus habe ich nicht als sonderlich weit und beschwerlich in Erinnerung. Seit knapp einer Stunde – hinter meinem Arbeitskollegen Zillur auf dem Motorrad sitzend – ist mir klar: Das lag daran, dass es trocken war. Heute regnet es. Wie zur Zeit jeden Tag. Es ist Regenzeit in Bangladesch, die Straßen sind nur noch schwer befahrbar und je näher wir dem Dorf kommen, desto weniger Straße ist überhaupt noch vorhanden. Auf den letzten Kilometern gleicht unsere Fahrt eher einer Schlitterpartie durch aufgeweichten Lehmboden und knöcheltiefes Wasser.

Für viele Menschen ist die Regenzeit eine willkommene Abkühlung nach den heißesten Tagen des Jahres, an denen das Thermometer weit über 35 Grad im Schatten steigt. Für andere Menschen ist es die härteste Zeit. Zum Beispiel für die 40-jährige Goleza Begum. Sie hat ihr halbes Leben in Shadratali verbracht. Wir treffen sie während einer wöchentlichen Sitzung einer Frauenselbsthilfegruppe, in der sie seit über einem Jahr Mitglied ist. Während der Sitzung erzählen sie und die anderen Dorfbewohner, wie sie darunter zu leiden haben, dass sie an einem Ausläufer des großen Teesta-Flusses leben. „In dieser Gegend gibt es viel zu wenig Arbeit. Mein Mann kann maximal sechs Monate im Jahr auf den Feldern als Tagelöhner arbeiten und ich nur drei Monate. Für die Familie haben wir damit an guten Tagen einen Euro, manchmal 1,50 Euro zum leben. Für drei Mahlzeiten reicht es nie“, berichtet Goleza.

Schwemmlandinseln und das Ufergebiet der großen Flüsse gehören zu den strukturschwächsten Regionen Bangladeschs. Hunderte von diesen Inseln in verschiedensten Größen befinden sich in den Flüssen Jamuna, Ganges, Brahmaputra oder Teesta, der zur Arbeitsregion von Jagorani Chakra Foundation gehört. Die Inseln sind oft noch deutlich schwerer zu erreichen als das am Ufer gelegene Shadratali. Eigentlich wollte ich eine der Inseln besuchen, aber das ist während der Regenzeit sehr schwierig. Die meisten werden nur zwei Mal täglich von einem Boot angesteuert, einige sogar nur ein paar Mal in der Woche.

Brücken vom Festland auf die Inseln gibt es nur selten. Zum einen liegt das an mangelnden Finanzmitteln, am ökonomischen Nutzen, aber auch daran, dass die Brücken nicht sehr beständig sind. Die Inseln wandern. Die Strömung der Flüsse trägt stetig Teile der Inseln ab, die dann an anderer Stelle wieder angeschwemmt werden. So kommt es vor, dass innerhalb von einigen Jahren ganze Inseln verschwinden und neue entstehen. Zum Leidwesen der Inselbewohner, die sich auf diese Gegebenheiten dadurch einstellen müssen, dass sie in regelmäßigen Abständen mit all ihrem Hab und Gut von einer Insel auf die andere umziehen, sich dort neue Plätze zum Siedeln suchen und sich in neuen Gemeinschaften zusammenfinden müssen.

Aber zurück ans Flussufer nach Shadratali, zurück zu Goleza Begum. Das Treffen wurde auf Grund des starken Regens frühzeitig beendet und Goleza bietet uns an, dass wir mit zu ihr nach Hause kommen können. Unterwegs dorthin berichtet sie, dass sie verheiratet ist und vier Kinder hat. Drei Töchter und einen Sohn. Mit Stolz sagt sie, dass sie ihre Töchter erfolgreich unter die Haube gebracht hat und sie darum nicht mehr zu Hause wohnen. Ihren Sohn treffen wir aber vor dem Haus an, während er gerade die im Rahmen des Projektes gekaufte Ziege füttert. Eigentlich besucht er derzeit die 9. Klasse, doch Goleza sagt: „Hin und wieder kann mein Sohn nicht zur Schule gehen, weil er arbeiten oder zu Hause helfen muss. Das Geld reicht sonst nicht aus.“ Trotzdem möchte sie ihm gerne so viel Bildung, wie es die Finanzen zulassen, ermöglichen.

Letztes Jahr hat die Regenzeit Golezas Familie mit voller Wucht getroffen und ihre Zukunft stark ins Wanken gebracht. Sie erzählt von ihren Erinnerungen, und das mit einer Ruhe und Gelassenheit, die bewundernswert sind: „Es war ein normaler Regentag im letzten Jahr. Alles war so, wie es in dieser Zeit immer ist. Ich habe abends mit meinem Ehemann und meinem Sohn zusammen zu Abend gegessen und dann sind wir ins Bett gegangen. Plötzlich, mitten in der Nacht während wir schliefen, krachte es! Die Flut brach in unser Haus ein und ein Baum zerschmetterte das Dach. Die Fluten waren so stark, dass sie Teile des Hauses sofort mit sich rissen. Wir mussten fliehen, doch mein Sohn war noch in den Trümmern des Hauses eingesperrt. Zum Glück konnten ihn einige Männer aus dem Dorf befreien, aber die Situation war sehr kritisch. Fast hätte er nicht überlebt.“

Zu diesen schwierigen Lebensbedingungen und den wenigen Möglichkeiten, Einkommen zu erwirtschaften, gesellt sich noch ein weiteres Problem, mit dem die Menschen in den Flussgebieten leben müssen: So abgeschnitten zu sein bedeutet nämlich auch, dass viele staatliche Dienstleistungen nicht erhältlich sind. Soziale Sicherungsprogramme gibt es zwar, doch helfen diese den im Fluss lebenden Menschen nur selten, obwohl sie zu den Bedürftigsten zählen. Zu aufwändig, zu teuer, zu kapazitätenbindend wäre es für den Staat, die Flussregionen voll zu erfassen. Ärzte arbeiten so gut wie nie in der Nähe der Flüsse. Krankenhäuser und Marktplätze sind oft erst in einigen Kilometern Entfernung angesiedelt. Auch Schulen sind für viele Kinder nur dann verfügbar, wenn sie von NGOs errichtet wurden. Doch auch NGOs verirren sich nur selten auf die Inseln.

Den Vorfall im letzten Jahr hat Goleza und ihre Familie bis heute nicht ganz verdaut. „Eigentlich hätten wir ein neues Haus bauen müssen, aber dafür reicht unser Geld nicht. Wir sind erstmal einige Zeit bei unseren Nachbarn untergekommen und haben die Reste des Hauses repariert. Wir bräuchten dringend ein neues Dach, können es uns aber im Moment nicht leisten“, sagt Goleza.

Ich frage sie, wie sie denn sonst auf die Regenzeit reagiere, was sie tue, wenn das Wasser kommt? Die Frage scheint sie ein wenig zu amüsieren, weil sie in ihren Ohren wohl naiv klingt. Goleza antwortet: „Wenn die Flut kommt, spielt sich der Großteil des Tages im Bett ab. Das haben wir extra etwas erhöht aufgebaut, damit es sicher vor dem Wasser ist. Dort können wir dann nur warten, dass das Wasser wieder weniger wird. Etwas anderes bleibt uns ja gar nicht übrig. An Arbeit ist in der Zeit jedenfalls nicht zu denken.“

Das Wasser verteufeln tut scheinbar trotzdem niemand: Einerseits macht es das Leben der Menschen zwar unbeschreiblich schwer, andererseits gehört es zum Alltag dazu und sorgt zudem für die Fruchtbarkeit des Landes, der vielleicht wertvollsten Ressource Bangladeschs und vor allem derjenigen Menschen, deren Leben so eng mit den Flüssen verknüpft ist.

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