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Das Idealbild?

Ich sitze im neunten Stock eines neu erbauten Hochhauses im amerikanischen Kulturzentrum EMK. Um mich herum ist alles aus warmem Grau, glänzendem Glas, Metall, lackiertem Holz. Man hört das Summen der Klimaanlage und gedämpftes Gemurmel, Lachen. In der geschmackvollen Umgebung tummeln sich Leute, die aussehen wie die zukünftige Elite Bangladeschs. Sie haben runde Gesichter, weiche Füße, gerade Zehen, feine Kleider. Die drei Jungs neben mir sprechen das Englisch amerikanischer Serien. Sie schauen in dicke Bücher und ab und zu auf ihre Smartphones. Sie blicken kaum auf, an Ausländer sind sie wohl gewöhnt. Sie sind gebildet. Sie können perfekt Englisch und sind international vernetzt. Sie können mit Technik umgehen. Sie haben ein Ziel, einen Traum, auf den sie hinarbeiten und sie sehen aus, als würden sie diese Ziele erreichen.

Verkörpern sie damit nicht ein Idealbild, auf das wir auch in unseren Projekten hinarbeiten? Wollen wir nicht, dass die Grundschüler auch diese Eigenschaften bekommen. Sie haben den Traum, Arzt, Ingenieur oder Polizist zu werden. Hier im EMK-Center sitzen die zukünftigen Doktoren, die es geschafft haben. Aber wenn ich mir die Menschen hier ansehe, kommen mir Zweifel. Da sitzen sie zwischen Beton, gedruckten Buchstaben und flimmernden Bildschirmen, sind ganz mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Zukunft, ihren Träumen. Ist das eine schönere, bessere Existenz als das Dorfleben, dass ich in Joypurhat beobachtet habe?

Die zukünftige Elite Bangladeschs, mit der ich hier sitze, interessiert sich für ihr Land. Sie fragt, wie man den armen Menschen, den Textilarbeitern, den Tagelöhnern helfen kann. Sie sind zwar Bangladeschis, aber von diesen armen Menschen sind sie genauso weit entfernt wie ich. Viele von den Jugendlichen hier leben neben der Armut her und ich frage mich, wie. Ihre Augen sind wohl von klein auf an die krassen Gegensätzen gewöhnt. Müssen sie nicht wegsehen? Tut es ihnen nicht weh, Bettler zu sehen? Ich weiß ihre Antwort nicht, ich traue mich auch nicht zu fragen. Schließlich bin ich in Deutschland mit genauso viel Luxus aufgewachsen. Mein reiches Leben ist - genau wie ihres - möglich durch die Ausbeutung anderer Menschen, der Textilarbeiter, der Tagelöhner. Ich hatte das bloß nicht jeden Tag in Fleisch und Blut vor Augen. Die Jugendlichen in EMK-Center sind mir in ihren Fragen ähnlich. Von unserem bequemen, sicheren Platz aus bedauern wir die Ungerechtigkeit in der Welt, betrachten das Elend, erkennen das Leid und das harte Leben der anderen an. Und was tun wir dann?

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