Bangladesch im Plural
Noch sitzen nicht viele Leute in der Essensbude an einer kleinen Landstraße in Nozipur. So bleibt genug Platz für meine Tasche und mich. Heute ist frei und so lassen sich erst wenige Leute früh am Morgen draußen blicken, sondern nutzen diese Stunden noch zum ausschlafen. Wenn mein Busunternehmen nicht entschieden hätte den einzigen Bus nach Dhaka um diese ungemütliche Zeit losfahren zu lassen würde ich es ihnen sicher gleich tun. Stattdessen beschäftige ich jetzt schon die Angestellten der Bude damit mir pharata (Brotfladen), ein Ei und Tee zu bringen. Der Tee kommt nach dem Essen. Eine der wenigen bengalischen Eigenarten, an die ich mich wirklich einfach nicht gewöhnen kann. Ich muss warten und so bleibt noch Zeit – ich bin eh wieder zu früh dran und meine Gedanken schweifen ab.
Gestern noch saß ich in einer Lehmhütte und habe mich mit zwei Familien über ihre Lebenssituation unterhalten. Ihre Hütten stehen am Rand des Dorfes. Ihre Bewohner gehören zu den Robidas. Eine Gruppe von Hindus, die traditionell zum Beispiel mit Leder arbeitet. Da diese Arbeit als "unrein" angesehen wird, ist es ihnen zumeist untersagt sich unter die anderen Dorfbewohner zu mischen. Der Großteil von ihnen gilt als extrem arm und es ist ihnen kaum möglich, aus ihrem vorgegebenen Lebensmuster auszubrechen. Veränderungen bleiben trotzdem nicht aus: heute kann kaum noch einer seiner angestammten Arbeit nachgehen. "Wie auch," fragt mich ein Mann, alle Schuhe kommen neuerdings aus China," dort würden sie mit Maschinen hergestellt und billig auf bangladeschische Dorfmärkte importiert. Das Arbeitswerkzeug seines Vaters hätte er noch, aber er sehe nur selten einen Grund dazu es auszupacken. Ob dies alle traditionellen handwerklichen Berufe von Hindus betreffe, will ich von ihm wissen. Er zuckt die Schultern, über andere Gegenden und Berufe wisse er nichts. Er könne nur für sein Dorf sprechen.
Zwischen Gedanken an kleine Dörfer und Globalisierung kommt mein Tee. Als ich meinem Lieblings-Essensbudenbesitzer das Geld für mein Frühstück in die Hand drücke fällt sein Blick auf meine Tasche. Ob ich wegfahre? "Ja, erst nach Dhaka und dann nach Satkhira." Um Himmels willen, das wäre ja schrecklich weit weg, ob ich denn wiederkommen werde? Bei einem Land, dass zwei mal so groß ist wie Bayern erscheint es mir nicht ganz angemessen von Satkhira mag es auch ganz im Süden liegen von wirklich weit weg zu sprechen. Ich verschlucke meinen Fernheitsgedanken und belasse es bei einem: "Klar, natürlich werde ich wiederkommen." Doch erstmal geht es Richtung Bus.
Die Frau neben mir freut sich sichtlich, mich als Sitznachbarin zu haben. Ihr nicht mehr ganz so kleiner Sohn, der zwischen uns sitzt, scheint mich ebenfalls sehr gerne zu haben, auf jeden Fall verschläft er einen Großteil der Busfahrt halb auf mir liegend. Spätestens als er am Nachmittag anfängt Teile seines Mittagessens auf mir zu erbrechen, fällt es mir schwerer mich davon zu überzeugen, dass ein unkompliziertes Gefühl allgemeiner Verbundenheit auch seine Vorteile hat und beginne mir mehr Privatsphäre zu wünschen.
Aber noch ist es früh am Morgen und der Junge hat noch nicht mal angefangen zu essen. Ein Blick aus dem Busfenster zeigt, dass alles seine Ordnung hat. Alle scheinen extra aufgestanden zu sein, um mir ihre Szene vor zuspielen. Thema: bengalisches Landleben. Beteiligte: Massen von Fahrradrikscha-Fahrern und ihre Fahrgäste, die sich selbst und in verschiedenen Kombinationen ihre Kinder, Reissäcke, Markteinkäufe, Ziegen und Plastiktaschen mit undefinierbarem Inhalt von einem Ort zum anderen transportieren lassen. Leute, die gebückt in Reisfeldern knien und dort ihrer Arbeit nachgehen. Hunde, die einige Meter vor dem rasenden Bus doch noch meinen, schnell die Fahrbahn überqueren zu müssen. Eine alte Frau, die eine gemütlich vor sich hin trottende Kuh an einem Strick zum nächsten Weideplatz zieht. Teebudenbesitzer, die das heiße Wasser im hohen Bogen in kleine Gläser gießen und zwei alte Männer, die irgendwo an einer Weggabelung in aller Ruhe ein Schwätzchen halten.
Ich weiß, dass das Land nur wenigen Großgrundbesitzern gehört, dass die Kuh, die die Frau grasen führt, vielleicht einer reicheren Familie gehört für die sie arbeitet und dass der kleine Junge, der an einer Essensbude mit unendlich konzentriertem Gesicht auf dem Rost die Teigfladen wendet, eventuell aus finanziellen Gründen die Schule nur bis zur zweiten Klasse besucht hat und wenig Chancen haben wird, in seinem Leben eine andere Anstellung zu finden. Ich weiß nur wenig von ihren Problemen, aber im Moment möchte ich noch nicht einmal das wissen, sondern einfach nur die vermeintliche Dorfidylle von meinem Fensterplatz aus der Vogelperspektive heraus betrachten.
Sieben Stunden später befinde ich mich im Stau: wortwörtlich gefangen in einer anderen Welt. Dhaka: Busse, Häuser, Menschenmassen, unangenehme Gerüche und Gehupe. Herzlich Willkommen in der Großstadt! Zwei Stunden Schneckentempo später sitze ich nach der Ankunft am Ziel alleine in meinem CNG (einer mit Gas betriebenen Autorikscha) und bin eigentlich sogar froh darüber.
Heimkommen. Erst mal duschen. Wieder raus. Es ist dunkel und damit auch etwas kühler geworden. Die Faulheit besiegen und laufen. Flanierende Großstädter und die unweigerlich mit ihnen auftretenden Eis- und Erdnussverkäufer machen das Vorwärts kommen schwierig, aber irgendwann erreiche ich dann doch das Cafe, in dem ich verabredet bin. Aus den Boxen klingt Gotan Project. Nun halt auch hier zu hören, in diesem Cafe in Dhaka. Eine Band aus Paris, die irgendwie so was wie Tango spielt. Da ihre Musik aber nur so etwas wie Tango ist, haben sie die Buchstaben bei ihrer Namensgebung halt ein wenig durcheinander geschüttelt und heraus kam: Gotan.
Ich fühle mich manchmal auch irgendwie in einem Land, das so was ähnliches wie Bangladesch darzustellen versucht. Das Gefühl der Musik gleich, ein wenig durchgeschüttelt zu sein lässt sich vermutlich nicht nur auf die heutige stundenlange Busfahrt über unzählige Schlaglöcher zurückführen. Zum Glück kann man so was aber nie genau sagen.
Der Rikschafahrer auf dem Heimweg erklärt mir, dass es nicht so sicher wäre, sich so spät am Abend noch alleine draußen rumzutreiben. Er selbst werde aber noch lange fahren und das jeden Tag, schließlich habe er eine große Familie zu versorgen. Ich kann mir noch nicht mal vorstellen, die schwere Rikscha auch nur den kurzen Weg lang in Bewegung zu setzen, den er mich gerade gefahren hat. Die bangladeschische Realität holt mich wieder ein und Armut, Gewalt und schlechte Arbeitsbedingungen lassen sich vor einer Kulisse von Smog und Villen mit Drahtzäunen auch schwieriger nostalgisch relativieren.
Noch schnell ein Blick in die E- Mails. Eine Einladung zu einem Foucault-Lesekreis und das neue Vorlesungsverzeichnis meiner alten Uni mit Veranstaltungen, von denen mich sicherlich viele interessiert hätten, die hier aber deplatziert wirken. Ein Kommentar von einer Freundin, ob ihr Brief mit meiner Geburtstagsmusik-CD angekommen ist. Neue Lieder von der Kleingeldprinzessin hätte sie mir geschickt. Westliche Großstadtmusik. Sie zweifle, ob es zu Bangladesch passe. Seinen weiten Weg nach Bangladesch hat der Umschlag, mit der CD darin, gefunden. Doch zu welchem der vielen Bangladeschs soll es passen - oder eben auch nicht?
Spätabends auf dem Balkon, Gespräche wie daheim. Unter uns blicken einige der anderen Freiwilligen und ich auf den See und auf einige der wenigen Bäume in Dhaka. Ein Ort, wo man sich dann wieder so fühlt, wenn der Geruch der Matratze und der Ruf des Muezzins nicht wären, als wäre man nicht in Bangladesch. Ruhig, entspannt, nett gemischt mit dem Gefühl, dass man ja eigentlich hier ist, weil man Bangladesch erleben wollte. Wenn man nur sagen könnte, wo es wäre und ob es etwas gibt was die verschiedenen Menschen und Orte zusammenhalten könnte und ob man überhaupt da sein kann oder nur irgendwie dabei.
Was bleibt ist eine eigentümliche Masse, denn in meinem Kopf vermischen sich die vielen Bangladeschs und ich könnte nicht mal sagen, ob meine jetzt hier versammelten, sich durch die Schrift in eine fixierte Form zusammengefügten Erinnerungen wirklich zu einem einzigen Tag gehören.