Auswege
Es ist der erste Tag des neuen Jahres 2010. Früh am Morgen schließe ich mich einer Besuchergruppe aus Deutschland und einigen Kollegen von GUK, meiner Partnerorganisation, an, um eine Frauengruppe zu besuchen. Mit zwei großen Autos fahren wir in die Gemeinde Horipur. Als die Wege anfangen, für die Autos unpassierbar zu werden, geht es zu Fuß weiter. Ich laufe durch Sand, ein eisiger Wind bläst mir die Haare ins Gesicht. Neben mir ist Wasser.
Ich bin müde von der Silvesternacht und fange an zu träumen. Ich stelle mir vor, ich sei an der Ostsee. Ich lasse meiner Phantasie solange freien Lauf, bis mir ein junges Mädchen entgegenkommt, das einen Sack mit Sand auf ihrem Kopf trägt. Bei ihrem Anblick muss ich daran denken, dass die häufigste Ursache für eine Lähmung in Bangladesch nicht etwa Straßenunfälle sind, sondern das Tragen zu schwerer Lasten. Und schon bin ich wieder in der Realität. In der harten Realität Bangladeschs. Das Wasser neben mir ist ein Fluss, der erst in der Monsunzeit zu einem gefährlichen und lebensbedrohlichen Strom wird. Momentan ist das Wasser flach, und hier und dort sind kleine Abschnitte mit Reis bepflanzt. Jeder Quadratmeter muss genutzt werden.
Das Dorf Taeora, in dem sich eine 2009 entstandene Frauengruppe befindet, liegt auf einer kleinen Anhöhe, die vor kommenden Fluten schützen soll. Neugierige Menschen erwarten uns gespannt – trotz Wind, Sandverwehungen und Kälte. Insgesamt sind wir sechs Ausländer und sechs Bangladeschis. Eine Menge Besucher auf einen Schlag. Die Aufmerksamkeit verteilt sich auf diese vielen Menschen, und so genieße ich es, einmal nicht alleinig im Mittelpunkt stehen zu müssen. Die Frauengruppe mit dem Namen Parapar („am Flussufer gelegen“) empfängt uns auf einem kleinen Platz zwischen zwei Wellblechhütten. Wir sitzen auf Planen, die am Boden ausgelegt wurden. Die Frau, die dicht neben mir sitzt, zittert am ganzen Körper. Ich habe eine warme Jacke an, die ich sicher für eine Weile hergeben könnte, ohne selbst frieren zu müssen. Aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Ich habe Angst, ich kann nicht verständlich machen, dass ich ihr die Jacke nur ausleihen möchte und später gerne wiederhätte. Ich bin zu feige. Ich spreche sie kurz an – unnötige Frage – ob ihr kalt ist. Sie lächelt freundlich und zeigt mir stolz, dass sie immerhin ein langärmeliges Shirt unter ihrem Sari trägt.
Die Frauen fangen schüchtern an, sich mit den Gästen auszutauschen. Die Gruppe existiert erst seit einem Monat, profitiert also noch nicht lange von dem Projekt „Ein Leben lang genug Reis“ von GUK und NETZ. Ziel des Programms ist es, die Frauen zu stärken, indem ihnen durch ein kleines Startkapital in Form von Geflügel oder Pflanzensamen ein zusätzliches Einkommen verschafft wird. In Lehrgängen erfahren sie, wie mit dem Startkapital umgegangen werden soll. Die Gruppe legt gemeinsam Teile des neu erworbenen Einkommens zurück und tauscht sich regelmäßig über Erfolge und Probleme aus. Außerdem versuchen sie, sich gemeinsam gegen Ungerechtigkeiten stark zu machen. Meine Überlegungen, den Jackenverleih betreffend, laufen noch auf Hochtouren, noch immer klappern die Zähne der Frau neben mir leise aufeinander, noch immer ist mir in meiner Jacke wohlig warm, da ist die Gruppe schon fertig mit Erzählen und löst sich auf.
Nach dem Treffen gehen wir los, um einige Wohnungen anzuschauen und einige Einblicke in das Leben der Familien der Frauen zu bekommen. Ich versuche mich zurückzuhalten und will der Besuchergruppe, die nur für kurze Zeit in Bangladesch ist, die Möglichkeit geben, alles in Ruhe zu erkunden. Ich unterhalte mich kaum mit den Einheimischen. Alle sind neugierig und aufgeregt mit den anderen Besuchern beschäftigt. Ich entferne mich, immer noch etwas müde und verträumt, und genieße die Ruhe. In einer Ecke am Rande des Dorfes steht ziemlich unscheinbar eine – ja, was ist es eigentlich? Ich wage es nicht, es eine Hütte zu nennen. Aus dünnen biegsamen, vielleicht 1,5 Meter langen Bambushalmen, die dicht nebeneinander aufgestellt sind, sind vier Wände entstanden. Darüber befindet sich ein Dach aus Wellblech.
Eine Frau aus der Parapar-Frauengruppe, der diese Unterkunft gehört, sieht mich, und kommt zu mir. Sie hat keine Familie. Ihr Mann ist seit einigen Jahren tot. Sie hatten keine gemeinsamen Kinder. Sie lebt ganz alleine. Die Frau bittet mich einen Blick in die Hütte zu werfen. In dem Moment, in dem ich begreife, dass diese Hütte ein Lebensraum ist. Es schon immer war, als ich an Bangladesch noch keinen Gedanken verschwendet habe. Und es auch noch sein wird, wenn ich wieder von der Schwemmlandinsel verschwinden werde – in diesem Moment passiert mir, was mir nicht passieren darf. Eines der gefährlichsten Dinge, die einem Menschen passieren können: Mein Verstand kann das, was meine Augen und mein Herz sehen, nicht mehr greifbar machen. Es ist noch kein Platz für solche Bilder in meinem Kopf vorhanden, wo mein Verstand sie hinordnen könnte. Er schaltet um. Keine Neujahrsmüdigkeit kann das erklären oder entschuldigen: Ich stelle mir vor, ich bin im Museum.
Es gibt nicht viel zu sehen in der Hütte, die die Frau mir zur Schau stellt. Ein schmales Bett, auf dem eine dünne Decke liegt. Einige wenige Küchenutensilien. Das war’s. Ich schaue mich draußen um. Menschen laufen herum, auch die bangladeschischen Einwohner schauen interessiert die Häuser und den Besitz ihrer Nachbarn an. Von Zeit zu Zeit wird irgendwo fotografiert. Die Stimmung ist ruhig, angenehm, fast freudig. Kinder toben abseits der Erwachsenen, sie verlieren früher als die Älteren das Interesse und fangen an, weiterzudrängen. Besichtigungsgegenstand, in meiner Phantasie nur nachgestellt, übertrieben, wie das in einem Museum von Zeit zu Zeit vorkommt: Ein arme Dorflandschaft. Kleine Strohhütten. Irgendwo hat jemand Feuer gemacht. Menschen in zerlumpten Kleidern scharen sich darum und unterhalten sich. Wenige Kühe stehen kauend an Strohbergen, die sich in Größe und Farbe kaum von den Menschenhäusern unterscheiden. Hühner laufen gackernd umher und werden von Zeit zu Zeit von Besuchern verscheucht. In manche der Häuser darf man eintreten und sogar fotografieren. Man kann sich anschauen, wie das Leben der Menschen aussieht, das mein Verstand nicht wahrhaben will. Schmale Bahren aus Stroh, auf denen geschlafen wird. Kaum andere Kleidungsstücke als die, die die vorführende Person anhat. Schön geformte, mit Gebrauchsspuren versehene Wasserkrüge. Gefährlich aussehende Schneidevorrichtungen. In einem Korb befindet sich der Inhalt einer Mahlzeit, die für eine sechsköpfige Familie einen ganzen Tag reichen muss. Drei handvoll Reis, zwei Eier, ein paar Gewürze. Ein englischsprechender Besucher übersetzt der Gruppe: „Abends wird gekocht. Die Reste [die sicher nicht übrigbleiben werden, weil die Familie satt geworden ist] werden am nächsten Morgen noch einmal warm gemacht. Mittags gibt es nichts zu Essen.“ Alle Besucher hören interessiert und betroffen zu. Es ist wie in einer Museumsführung. Und schon geht es weiter zum nächsten Haus.
Ich möchte einfach nur weg. Möchte nichts mehr sehen, nichts fotografieren, nicht mit den Menschen reden. Nicht solange ich sie für Museumsbesucher und Museumsführer halte. Mir ist noch nie so etwas passiert. Ich fühle mich hundeelend. Der Menschenzug läuft weiter und ich folge teilnahmslos. Mechanisch verspreche ich den Bewohnern wiederzukommen.
Erst am späten Abend, als ich die Möglichkeit habe, mich zurückzuziehen, kann ich wieder klar denken. Ich versuche darüber nachzudenken, was passiert ist und was ich machen kann, dass das nicht noch einmal passiert. Reden, nicht aufhören, sich auszutauschen. Das ist das Wichtigste. So kann es gehen. Reden, um zu verstehen, um zu begreifen. Langsam verarbeiten. Und nicht mehr vergessen. Ich muss mich erst wieder fangen. Aber dann werde ich weitermachen, weiterlernen. Lernen, zu begreifen und lernen, zu handeln, einfach mal zu handeln. Ich werde tun, was ich heute, mechanisch, ohne es so zu meinen, versprochen habe. Jetzt meine ich es so. Ich werde wiederkommen. Ich werde solange wiederkommen, bis ich es begriffen habe. Ich hoffe, mir reicht die Zeit!
Fotos von Regina Breg.