Auf zerlöcherten Lehmpfaden
Nach der monatlichen Arbeitsbesprechung der NETZ-Freiwilligen in Dhaka fuhr ich mit einem festen Auftrag von NETZ im Rucksack nach Netrakona. Ich sollte Interviews mit neun Frauen führen, die im Entwicklungsprojekt für extrem arme Frauen mitmachen, und so NETZ über den neuesten Stand der Arbeit informieren. Das Projekt wird im Landkreis Mohanganj, einem der ärmsten Bezirke des Distrikts Netrakona, durchgeführt. Außerdem hatte ich eine Liste mit 25 Frauen bekommen, die dem Projekt beitreten wollten. Davon sollte ich so viele wie möglich befragen. Anfangs dachte ich noch ganz entspannt, dass ich fast den ganzen Monat dafür Zeit hätte. Nach meiner Ankunft in Mohanganj am 11.1. erfuhr ich jedoch, dass das Büro vom 19.1. bis zum 29.1. wegen des Eid-al-adha-Feiertages geschlossen sein würde. Dieses Opferfest ist eines der beiden wichtigsten Feste im Jahreskreis der muslimischen Bevölkerung. Und danach musste ich sowieso schon wieder nach Dhaka.
Gleich am Tage der Ankunft in Mohanganj machte ich mich also an die Arbeit und musste schnell erkennen, dass ich ernsthafte Zeitprobleme bekommen würde. Die Dörfer, in denen die Frauen leben, liegen nämlich nicht gerade nah beieinander. Man muss zu Fuß, mit der Rikscha oder dem Motorrad teilweise beträchtliche Strecken über zerlöcherte Lehm- oder Backsteinpfade zurücklegen, um die kleinen Siedlungen zu erreichen. Mein Begleiter, Mr. Zaman, zuständig für die Wirkungskontrolle des Projekts, unterstützte mich bei der Durchführung der Interviews. Er spricht sehr gut Englisch, ließ mich aber erst mal selbst probieren, wie weit ich mit meinen Bengalisch-Kenntnissen kam. Es machte uns beiden richtig Spaß und wir lernten meiner Meinung nach viel von einander, weil wir sehr unterschiedliche Arbeits-Ansätze hatten und uns ergänzten.
Von den Frauen wurden wir ganz unterschiedlich aufgenommen. Kohinor, eine Frau die seit zwei Jahren in dem Projekt für extrem arme Frauen mitmacht, bereitete uns einen für ihre Verhältnisse fürstlichen Empfang. Sie drängte uns freundlich Tee, Kekse, Betelnüsse und Milch auf. Anfangs wehrte ich mich noch dagegen, weil ich dachte, sie würde sich mit den Ausgaben übernehmen. Sie freute sich aber so ehrlich, uns etwas geben zu können und hatte mit der Kuh, die sie durch das Projekt erhalten hat, eine beträchtliche Steigerung ihres Einkommens erreicht, so dass ich irgendwann aufgab, mich gegen ihre Gastfreundlichkeit zu wehren.
Die nächste Frau, die einer Selbsthilfegruppe des Projekts erst noch beitreten wollte, war zurückhaltend und unsicher. Außerdem hatte es den Anschein, dass sie nicht so ganz ehrlich auf unsere Fragen antwortete. Anfangs erzählte sie noch, ihr Sohn könne nicht zur Schule gehen, weil er die fünf Ziegen der Familie hüten müsse. Später waren die Ziegen plötzlich schon vor einiger Zeit gestorben und der Sohn ging trotzdem nicht zur Schule.
An den ersten drei Tagen schafften wir jeweils zwei Interviews. Ich war aber trotzdem nicht zufrieden mit dem Erreichten, weil ich durch den Zeitdruck nicht die Muse hatte, mich länger mit den einzelnen Frauen zu unterhalten oder mehr Fotos zu machen.
Dann war Freitag und das Büro war wieder mal geschlossen. (Das bengalische Wochenende umfasst nur den Freitag). Mein Begleiter musste nach Dhaka fahren und ich fuhr mit bis Netrakona, um die Zeit wenigstens für das Abtippen der Interviews zu nutzen. Denn im Büro von Sabalamby in Mohanganj gibt es keinen Computer. Leider erhielt ich den Schlüssel zum Computer-Raum nicht und ich musste folglich einen Tag länger in Netrakona bleiben als geplant. Am Sonntag wieder in Mohanganj, machte ich gleich mit den Interviews weiter, diesmal unter größeren Schwierigkeiten. Denn mein neuer Begleiter kann nur wenig Englisch. Glücklicherweise hatte ich schon eine gewisse Routine gewonnen und mir ein paar Schlüsselvokabeln aufgeschrieben. So schaffte ich in den letzten zwei Tagen bis zu den Eid-Ferien drei weitere Interviews. Mehr Interviews wären möglich gewesen, jedoch hatten wir auch einen Tag, an dem wir kein einziges Interview führen konnten. Die Frauen waren leider nicht in ihren Hütten anzutreffen, da sie anderweitigen Verpflichtungen nachkommen mussten.
Dann kam das Eid-Fest. In Netrakona stand alles still. Sogar die Kantine, in der sonst reger Betrieb herrscht, war geschlossen. Ich stand vor einer ganz neuen Herausforderung: Dreimal am Tag musste ich 20 Minuten in die Stadt gehen, um etwas zu essen zu bekommen, und natürlich auch wieder zurück. Das ständige Rikscha-Fahren habe ich mir abgewöhnt. So hatte ich eine Beschäftigung für die Tage ohne Arbeitsprogramm. Die Situation änderte sich jedoch abrupt mit dem Beginn der Eid-Feierlichkeiten. Das wichtigste Ritual des Eid-Festes ist das Schlachten, und die Menschen feiern ausgiebig mit Essen und Tee trinken. Folglich erhielt ich plötzlich unzählige Einladungen - zu Rindfleisch und Misti, zucker-zuckersüßen bengalischen Süßigkeiten.