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Auf dem Deich

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Ich sitze hinter meinem Kollegen Razzak auf dem Motorrad, es ist 5 Uhr morgens und die Straßen sind noch vergleichsweise leer. Wir fahren trotzdem langsam, denn der morgendliche dichte Nebel über den Reisfeldern, die sich im späten Herbst langsam gelb färben, beeinträchtigt unsere Sicht. Dicht hinter uns folgen die beiden zuständigen Manager. So fahren wir schweigend und noch müde eine halbe Stunde durch die Dörfer, bahnen uns unseren Weg durch Märkte, schlängeln uns durch Menschenmengen und weichen entgegenkommenden Rikschas aus. Langsam vertreibt die Sonne den Nebel und es wird warm.

Dann sind wir da. Auf der Deichstraße im Bezirk Chilmari nahe dem kleinen Dorf Char Bozra Modhopara am Brahmaputra herrscht reges Treiben. Über 100 Leute sind gekommen und warten auf uns. In der Hand oder in Tüten haben sie ihre Hühner mitgebracht. Schnell packen wir unsere Sachen auf einem kleinen Tisch neben einer Teebude aus und hängen dahinter eine Stoffbahn mit der Aufschrift „Impfcamp Chilmari“ auf. Sofort drängen sich alle so nah wie möglich um den Tisch, schubsen, rufen und halten uns ihre Hühner entgegen. Drei der Teilnehmer aus dem „Ein Leben lang genug Reis“-Projekt, die ein spezielles Training erhalten haben, und wir ziehen Spritzen auf und fangen an einem Huhn nach dem anderen genau 5 Zentiliter Impfstoff in den Oberschenkelmuskel zu injizieren. Ein Mitarbeiter versucht gleichzeitig den einen Taka (entspricht etwa einem Eurocent) einzusammeln, den jede Impfung kostet. Es herrscht Chaos. Die beiden Manager versuchen die Menge davon zu überzeugen, dass das Ganze viel schneller vonstattengehen würde, wenn sich alle geordnet in einer Reihe anstellen und niemand drängeln würde – vergebens.

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Ich treffe Shahida. Während sie darauf wartet, dass ihr Huhn geimpft wird, erzählt sie mir von sich. Sie sei 72 Jahre alt, sagt sie, und lebe alleine, da ihr Mann vor 18 Jahren gestorben sei. Ihre fünf Kinder sind längst verheiratet und leben nicht mehr im Dorf. Aufgrund ihres hohen Alters bekomme sie leider keine Arbeit mehr. Ihr einziges Einkommen erziele sie durch ihre kleine Hühner- und Entenzucht. Momentan habe sie zwei Enten und eine Henne. Damit sie nicht betteln gehen muss gebe ihr ältester Sohn ihr zusätzlich ein wenig Geld, sodass sie sich zumindest zwei Mahlzeiten am Tag leisten kann. Ein Nachbar erlaubt Shahida auf seinem Land in einer kleinen Bambushütte zu wohnen. Eine Latrine sowie eine Hand-Wasserpumpe teilt sie sich mit anderen Nachbarn. Shahida ist eine der ärmsten im Dorf und Teilnehmerin des Projektes „Ein Leben lang genug Reis“. Alle Teilnehmerinnen dieses Projektes aus Char Bozra Modhopara treffen sich einmal wöchentlich. Im Projekt lernen sie, aus dem wenigen was sie haben das bestmögliche rauszuholen. So pflanzt Shahida seit sie in der Gruppe ist um ihre Hütte Gemüse an. Zusätzlich unterstützt „Ein Leben lang genug Reis“ sie, indem für sie ein kleines Stück Land, auf dem sie Reis anpflanzen kann, gepachtet wird. Shahida erzählt, dass sie hofft, bald nicht mehr auf den Zuschuss von ihrem Sohn angewiesen zu sein. Denn schließlich sei auch er nicht reich und habe eine Familie zu ernähren.

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Zwei Stunden lang hält das Chaos an, dann wird die Menge kleiner und kleiner, bis schließlich keiner mehr da ist. Wir räumen auf, waschen uns gründlich die Hände und setzen uns erschöpft in eine der Teebuden, um endlich zu frühstücken und Tee zu trinken. Razzak erklärt mir, dass diese Impfcamps sehr wichtig für die in abgeschiedenen Dörfern lebenden Menschen sind. Werden ihre Tiere von Krankheiten befallen und sterben, hätten viele von ihnen keine Einkommensquelle mehr und rutschten weiter in die Armut ab. Die Impfung bewahrt sie wenigstens vor dieser Art von Schicksalsschlägen. Wir genießen noch ein bisschen den Ausblick vom Deich auf den nahen Fluss. Dann brechen wir wieder auf; unser Tag hat grade erst begonnen.

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