Ankommen und Aufbrechen
Seit ich bei meiner Partnerorganisation GUK lebe und arbeite, tauche ich ein wenig tiefer in das Leben der Menschen in Bangladesch ein. Und werde es von nun an häufiger tun können.
Fünf Gehminuten vom Büro von GUK entfernt, liegt eine von NETZ unterstützte Grundschule. Meine Füße betreten zum ersten Mal den kleinen Sandweg, den sie von nun an noch so viele Male betreten werden. Durch grüne Reisfelder, an spielenden Kindern und arbeitenden Menschen vorbei. Überall stehen kleinen Blechhütten, in denen die Familien der Nachbarschaft wohnen. Kühe und Ziegen grasen auf den Wiesen neben dem Weg. Sie sind an einem Seil festgebunden, das an einem kleinen Holzpflock befestigt ist, der in der Erde steckt. Bei dem ersten hupenden Motorrad, das vorbeifährt, kann sich zwar das erschreckte Tier losreißen, aber es wird nicht weit weglaufen. Es gehört in dieses Dorf.
Und wo gehöre ich hin? Deutschland ist schon so weit weg. Und doch: Jede einzelne Begegnung mit einem Bangladeschi macht mir schmerzlich bewusst, wie viele Hindernisse es für mich noch geben wird. Beim Eintauchen in dieses Land. Es wird mir nie ganz gelingen. Ich kann und will dringend die Sprache lernen. Ich wünsche mir, mich flüssig unterhalten zu können. Alles sagen zu können, was ich jetzt nur unvollständig in Gesten ausdrücken kann. Ein unüberwindbares Hindernis ist mein Aussehen. Immer werden die Blicke auf mich gerichtet sein, schamlos, unendlich ausdauernd, vollkommen konzentriert. Ich mag es nicht, so beobachtet zu werden. Ich mag untertauchen, mag selbst beobachten. Aber das geht nicht, wenn man immer in der Mitte des Geschehens ist. Es ist paradox: Durch seine grenzenlose Offenheit, verschließt sich dieses Land unüberwindbar vor mir.
Manchmal ist es sehr unangenehm für mich, nie ungestört sein zu können. An Tagen, in denen ich mich nicht wohl in meiner Haut fühle. In denen ich mir verkleidet vorkomme, weil ich Kleidung anhabe, die nicht meine ist. Manchmal versuche ich mich dann zu beruhigen. Mir einzureden, dass die Leute zwar schauen, aber es ihnen egal ist, ob ich ungelenk oder viel zu groß für dieses Land bin. Viel zu ungeschickt in so vielen Dingen. Für solche Dinge haben sie keine Zeit, so etwas ist unwichtig in einem Land, in dem so viele Menschen darum kämpfen müssen, einigermaßen erfolgreich durch den Tag zu kommen. In dem sie sich mit dem Gedanken beschäftigen müssen, wie sie ihren Kindern am Abend noch etwas zu essen vorsetzen können. Um zu vermeiden, dass sie nachts vor Hunger nicht schlafen können.
Manche dieser Kinder aus sehr armen Familien gehen also in die Grundschule, die ich an meinem ersten Tag besuche. Ich werde sie in den nächsten elf Monaten dort noch oft besuchen kommen. Die Schulkinder sehen glücklich aus, wie sie auf kleinen Bänken oder auf dem Boden in ihrem Klassenraum sitzen. Die Mädchen tragen alle schöne Kleider. Manche Jungen haben eine Art Schuluniform an, eine kurze Hose mit einem Hemd, andere T-Shirts. Manchen Kleidern sieht man die Gebrauchsspuren an. Sie sind ausgewaschen, an einigen Stellen kaputt. Oder haben Flecken, die beim Waschen nicht mehr rausgehen.
Die Schuhe – meine eigenen mittendrin – werden manchmal ordentlich, manchmal aber auch ganz wild durcheinander vor dem Klassenraum abgestellt. Dort warten sie darauf, nach der Schule von den Kindern wieder angezogen zu werden und durch die Felder den Heimweg anzutreten. Beim Zählen der Schuhe fällt auf, dass die Anzahl der Schuhpaare nur für die Hälfte der Schüler ausreicht. Die andere Hälfte wird ohne Schuhe nach Hause laufen und auch am nächsten Tag wieder barfuss hier ankommen. Wenn ich in eine der Klassen komme, dann singen die Kinder etwas für mich oder tanzen etwas vor. Wenn ich Pech habe, kommt irgendeinem der Kinder die Idee, ich könne doch auch etwas singen. Ich habe noch nie alleine vor Menschen gesungen und mag es nicht. Aber was soll man machen, wenn dreißig große, strahlende Augenpaare einen erwartungsvoll anschauen. Ich singe also ein deutsches Lied. In einem kleinen dunklen Klassenraum. In einer Schule mit liebenswerten und neugierigen Kindern. In Boali, einem kleinen armen Dorf in Bangladesch. Nach einigen Zeilen, geht mir der Liedtext aus. Ich trällere einfach tapfer weiter, erfinde einige Wörter. Es merkt hier ja Gott sei Dank keiner.
Nach Feierabend gehe ich in mein Zimmer, das ich hier bei GUK habe. Ich verlasse damit für diesen Tag die endlose Weite der wunderschönen Natur und den leichten Wind, der über die Reisfelder weht und hilft, den Abend ein wenig abzukühlen. Und ich verlasse auch die armen Familien, die Kinder in der Schule, und überlasse sie ihrem Alltag. Hier drinnen im Zimmer steht die Luft. Ich habe die Vorhänge zugezogen, weil sich sonst die Frauen, die auf dem gleichen Gang schlafen wie ich, neugierig die Nase an dem Fenster plattdrücken würden. Für kurze Zeit möchte ich auch Bangladesch vor der Tür lassen. Ich räume mir ein bisschen Platz in dem dunklen Zimmer frei und greife zu meinem Springseil. Draußen wird es dunkel.
Bangladesch kommt in Form einer riesengroßen Kakerlake schneller zurück in mein Zimmer, als mir lieb ist. Ich ekle mich vor ihr, wie sie so schnell über den Zimmerboden huscht. Sie kann so schnell laufen und hat so große Fühler. Und wenn sie sich bewegt, macht sie komische Geräusche. Aber der Hausmeister, „mein Held“, wird sie, wenn ich ihn rufe, mit der Hand fangen und dann mit einer Seelenruhe vor die Tür setzen – und wahrscheinlich nicht ganz verstehen, warum ich so hysterisch war, als ich ihn gerufen habe.
Wie unterschiedlich wir doch sind. Ich fange hier in Bangladesch an, darüber nachzudenken, was ich wirklich brauche und an was ich mich nur im Laufe meines Lebens gewöhnt habe. Woher weiß man den Unterschied? Ich hoffe, dass mit den Erfahrungen, die ich hier machen werde, meine Gedanken in neue Richtungen treiben werden. Ich möchte lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Ersteres festhalten und Letzteres ablegen lernen. Ich hoffe, die Menschen in Bangladesch helfen mir dabei. Und ich wünsche mir so sehr, dass ich einen Weg finde, auf irgendeine Weise auch sie zu unterstützen. Noch habe ich keinen befriedigenden gefunden. Außer diesem Sandweg zu der schönen Schule in Boali, Gaibandha.