"Anfang und anfangen"

Die Fingerspitzen meiner linken Hand sind rot. Ich sitze vor meinem Zimmer in Putimari und lasse die Beine baumeln. Betrachte meine eingefärbten Finger in der Sonne. Eine kleine Hand greift nach dem Rot und zieht es aus meinem Blickfeld. Zieht es weiter hinter sich her, zieht es und mich weg von meinem Zimmer und hinein nach Bangladesch. Zehn Schritte von meiner Tür, durch einen sonnenlichtdurchfluteten Raum hindurch und hinein in eine andere, neue Welt. Ein schmales Gesicht wendet sich mir zu, die dunklen Augen leuchten, die schwarzen Haare fallen in den Nacken. "Mehendi, khub shundor" (auf Deutsch: "Deine Hennabemalung ist sehr schön"), Pervin zeigt auf meine Hand und lächelt. Sie ist diejenige, die mir gestern beim Auftragen der Henna-Paste geholfen hat.
Pervin führt mich zu ihrem Zuhause. Nur drei Minuten von meinem Zimmer entfernt und doch ganz anders. Wände aus Wellblech, ebenso das Dach. Tür ohne Schloss und Riegel. Innen kein Strom. Trotzdem sind Ähnlichkeiten zu meinem Zimmer vorhanden. Das Bett mit dem Moskitonetz, der Schrank, das Regal zum Aufhängen der Kleidung. Nur befindet sich dort viel weniger Kleidung als bei mir. Ich bemerke außerdem, dass Pervin heute wieder die selben Sachen trägt wie gestern. Und wie vorgestern.
Zimmer und Bett teilt sich Pervin mit ihren drei Geschwistern, sowie mit ihrer Mutter Shokina. Ihr Vater arbeitet und schläft in einem kleinen Geschäft im Dorf. Er kommt nur zum Essen nach Hause. Gekocht wird zusammen mit den Nachbarsfrauen im Freien auf dem Lehmboden. Das Essen wird in einem Topf über der Feuerstelle erhitzt. Meistens Reis und Gemüse, selten Fleisch oder gar Fisch.
Ob Pervin ihren Alltag mag? Sie mag ihn.
Pervin ist zwölf Jahre alt und besucht täglich die Schule. Samstag bis Donnerstag geht sie gemeinsam mit anderen Schülern und Schülerinnen in blau-weißer Uniform einen von Wiesen und Feldern begrenzten Weg entlang, um in die Grundschule einer lokalen NGO zu gelangen. An vielen NGO-Schulen wird der Lehrstoff der Klassenstufen 1-5 in vier Jahren vermittelt. Dabei lernen die Kinder Bengalisch, Mathematik, Englisch, Religion und Soziologie. Um 10 Uhr beginnt der Unterricht. Alle strömen in ihre Klassenzimmer und verteilen sich in zwei Gruppen- eine bessere und eine schlechtere. Pervin sitzt dabei in der schlechteren. Ihr fällt das Lernen nicht leicht. Das lateinische Alphabet beherrscht sie immer noch nicht, dabei ist sie bereits in Klasse 4. Ich frage sie, ob sie ihren Namen für mich aufschreiben kann. Sie weigert sich und guckt dabei verschämt auf den Boden, als die Lehrerin vorbei kommt.
Ob Pervin die Schule mag? Sie mag sie.
Nachmittags spielt sie normalerweise mit ihren Geschwistern auf dem Hof oder läuft mit den Kindern durch Putimari. Nur heute bringt sie mich zu ihr und zu ihren Schulsachen. Sie schlägt ein Heft auf und beginnt mühselig ihren Namen zu kritzeln. Ich sehe, wie die kleine Hand die Buchstaben sehr holprig und unter großer Anstrengung auf das Papier bringt. "Pervin Akter". Trotzdem scheint sie geübt zu haben. Vielleicht hat ihr die Sache in der Schule zugesetzt? Jetzt soll ich die Namen ihrer Geschwister und Eltern aufschreiben. Pervin beginnt, auch diese nachzumalen. Danach schlägt sie ihr Heft zu, lächelt mich stolz an. Sie hat mir bewiesen, dass sie mehr kann als Hände färben.
Das Rot an meiner Hand begleitet mich zurück. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Da der Strom ausgefallen ist, liegt das ganze Dorf in Dunkelheit. Nur ab und zu blitzt eine Taschenlampe auf. Ich durchschreite wieder den Raum in eine mir bekanntere Welt. Eine ein wenig vor den bengalischen Realitäten geschützte Welt. Ich setzte mich vor meine Tür und lasse die Beine baumeln.
Ob ich Bangladesch mag? Ich mag es.