Andere Welten
Es ist Abend als wir in Netrakona, im Norden Bangladeschs ankommen. Ich merke, dass Dhaka nicht Bangladesch ist! Hier auf dem Land ist die Luft so rein und die Nacht so dunkel, dass man die Milchstraße und den ganzen Himmel voller Sterne sehen kann. Die Rikschas fahren alle mit einem kleinen, flackernden Licht, das an der Unterseite angebracht ist und etwas Mittelalterliches hat. Es gibt urige Apotheken, in denen Schränke stehen, von denen jeder Antiquar träumt und in denen sich die Medikamentenverpackungen in ihrer eigenen Ordnung bis zur Decke stapeln. Auf dem Markt im Zentrum der kleinen Stadt komme ich von einem Duft in den nächsten, ganz vorne wird der Fisch angeboten, weiter hinten häufen sich Kartoffeln, Zwiebeln, Reis, Auberginen, Gurken in Körben und Karamell wird in dicken gelben Blöcken verkauft. Die jungen Männer lachen, als ich nicht zehn Taka für zwei Gurken zahlen möchte und halbieren den Preis. Gurken kosten etwa zwei Taka pro Stück.
Viele Leute rufen "Hellohowareyou?" auf der Straße, ich fahre an Hindu-Tempeln mit Götterbildern genau so oft vorbei wie an kleinen und größeren Moscheen. Hier sitzen Männer und Jungen ganz in weiß, mit Kappen auf ihren Köpfen, man kann meist durch Gitterstäbe hineinsehen.
Der Besitzer eines Stoffladens kann gut Englisch, er weiß, wie überraschend viele andere auch, über Angela Merkel Bescheid und fragt mich, ob ich Baader-Meinhof kenne. "Not personally", sage ich. Er gibt nicht zu erkennen, ob er ein Fan der RAF ist. Beim Anstehen vor einem Laden wird mir plötzlich ein Baby hingehalten, der Vater drückt es mir in den Arm und der kleine Junge strahlt mich an. Bangladesch scheint sehr kinderfreundlich zu sein. Es gibt so viele Kinder hier, aber bei vielen Mädchen frage ich mich, was wohl aus ihnen wird.
Ich besuche einen "Reflect"-Kurs für Mädchen meiner Organisation Sabalamby Unnayan Samity (SUS) in Gabindupur. Reflect ist eine Methode, mit der den Jugendlichen Lesen und Schreiben beigebracht werden soll. Auch wird mit ihnen über Themen wie Gesundheit, Hygiene und Familienplanung gesprochen. Mit der Rikscha ist Gabindupur nur zehn Minuten von Netrakona entfernt und trotzdem wieder eine andere Welt, ein kleines Dorf. Wir laufen an einem Bauern vorbei, der mit zwei Ochsen sein Feld pflügt. Es ist harte Arbeit und er gibt genau so ein Bild ab, wie es im Erdkunde-Buch unter "Dritte-Welt-Länder" abgebildet wäre. Aber hier, in Realität, empfinde ich es nicht als rückständig und ich fühle kein Mitleid mit ihm. Er lächelt, als er merkt, dass ich ihn fotografiere. Ich frage mich, wie teuer es für ihn ist, sich zwei Ochsen anzuschaffen, oder ob es vielleicht gar nicht sein Acker ist? Achtzehn Mädchen sitzen mit strahlenden Augen im Schatten und erzählen, was sie gelernt haben. Vor Beginn des Kurses haben, laut der Mitarbeiterin von Sabalamby, nur drei Mädchen eine Latrine zu Hause gehabt, jetzt melden sich alle bei meiner übersetzten Frage. Der Kurs dauert zwei Jahre und endet diesen Dezember. Alle Mädchen wollen danach in die nahe gelegene staatliche Schule gehen. Ich frage, wie viele ihrer Geschwister die Schule besuchen. Sehr wenige und wenn, dann nur Brüder. Ich bezweifle, ob die Eltern, die alle auf dem Feld arbeiten, ihre Töchter in ihrem Vorhaben unterstützen werden. Ich denke zurück an den Mann auf dem Acker. Seine Tochter wird nach der Heirat in einem anderen Haus leben, er muss auch seine anderen Kinder ernähren und braucht Hilfe auf dem Feld und seine Frau braucht Hilfe im Haushalt. Die Schulmaterialien kosten Geld. Er selbst kann sicherlich nicht Lesen und Schreiben, warum sollte seine Tochter dies also lernen? Ich würde einem dieser lernhungrigen Mädchen gerne dabei helfen, die Schule zu besuchen.
Eine ganz andere Erfahrung mache ich bei einer Mitarbeiterin von Sabalamby (SUS) zu Hause. Sie lädt mich nachmittags ein, mit zu ihr zu kommen und ihre Familie kennen zu lernen. Das Haus ist von außen eher unscheinbar, aber innen merkt man, dass die Familie mehr Geld hat. Zwei Brüder haben ein eigenes Geschäft in Netrakona, ein Bruder lebt in Australien, die Schwägerin Shila, die auf ihr Visum für Australien wartet und solange bei der Familie ihres Mannes lebt, ist Ärztin. Ihr Englisch ist sehr gut. Das frisch vermählte Paar hat sich über einen Heiratsvermittler kennen gelernt. Beide Familien haben die Daten ihrer Kinder angegeben und dann wurde ein passender Partner gesucht. Die beiden haben sich unter Aufsicht getroffen, dann "verliebten wir uns", erzählt mir Shila und es wurde schließlich, wie auf den Fotos zu erkennen, mit vielen Henna-Bemalungen, Schmuck, Schminke und reichlich Essen geheiratet. Sie wirkt wirklich glücklich mit dieser Ehe und telefoniert drei Mal am Tag mit ihrem Mann in Australien. "Ich bete jeden Tag zu Allah, dass ich ihn bald wiedersehe", erklärt sie. Ich überlege mir, wie viele Anfragen Allah am Tag bekommen muss, wenn alle "guten" Muslime fünf Mal am Tag beten. Der hat einiges zu tun...
Ich werde über das Familienleben in Deutschland ausgefragt. Mein Gegenüber ist entsetzt, als ich erkläre, dass wir von zu Hause ausziehen und ohne unsere Eltern unsere eigene Familie gründen. "Aber deine Eltern sind dann ganz alleine", stellt sie fest. "Warum tut ihr das?" Mir fällt keine rechte Antwort ein und ich versuche, diese scheinbare Undankbarkeit mit unserer Selbstständigkeit zu rechtfertigen. Ich muss an meine Zeit in Deutschland denken, in der ich am Empfang in einem Seniorenzentrum gearbeitet habe und wie einsam viele der alten Menschen dort waren.
Die Mitarbeiterin von SUS ist erst seit zwei Monaten bei der Organisation und meiner Meinung nach mit ihren goldenen Ohrringen etwas fehl am Platz. Ich muss einsehen, dass die wenigsten aus Überzeugung arbeiten und für die meisten diese Anstellung eben ein Job wie jeder andere ist. Die Fluktuation ist hoch, weil ein NGO-Job oft nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur sicheren Regierungsanstellung ist. Dort bekommt man eine Rente, ist verbeamtet und in der Gesellschaft noch mehr angesehen.
Ich fühle mich sehr wohl bei SUS. Die Organisation ist groß, aber trotzdem familiär geblieben und jeder nimmt sich gerne Zeit für mich. Zwar wusste kaum jemand, dass ich kommen werde, aber jetzt, da ich hier bin, werde ich überall herzlich empfangen und meine Fragen werden beantwortet. Abends sitze ich auf der Dachterrasse des Krankenhauses, in dem ich erstmal untergebracht bin, und schaue zu den Sternen. Ein spannender Tag in Netrakona geht zu Ende.