ALLTAG IN DHAKA
Wie jeden Tag sind wir als Gruppe mit der Rikscha zu unserer Sprachschule gefahren und waren bei der Ankunft (wie immer) gelöster Stimmung. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als wir feststellten, dass bei unserer Ankunft ein junger Mann unmittelbar vor dem Eingang des Hauses lag. Reglos und mitten auf dem Bürgersteig.
Wir waren spät dran und ich selber habe in meiner Verblendung, diese Szene nicht direkt gesehen. Erst als meine Mitfreiwilligen unsere Sprachlehrerin darauf ansprachen und sie um Rat baten, bin ich mit ihr und zwei anderen vor die Tür getreten, um nach dem Rechten zu schauen. Wir wussten weder ob er noch am Leben war oder wie er dahin gekommen ist.
Mittlerweile hatten sich ein paar Passanten um den jungen Mann versammelt und versuchten ihn mit einfachen Mitteln zu Bewusstsein zu bringen. Sie ließen ihm kaltes Wasser über die Stirn laufen und sprachen ihn immer wieder an. Doch es dauerte lange, bis sich seine Atmung wieder regulierte und er einigermaßen in der Lage war sich aufzurichten. Ein Mitfreiwilliger von mir reagierte geistesgegenwärtig und gab seine kalte Flasche Wasser an einen der Helfer und kaufte bei dem kleinen Straßenstand nebenan ein paar Bananen, mit denen der junge Mann dann vorsichtig gefüttert wurde.
Bis heute kann ich die Leere in seinen Augen nicht vergessen, als er schwach und zögerlich von dem Wasser trank und die Bananenstückchen kaute. Es schien, dass er die Menschen um sich herum nicht wahrnehmen konnte und nur noch instinktiv auf die Anreize um sich herum reagierte.
Hilflos standen wir noch einige Zeit da und überlegten jeder für sich, wie man dem armen Menschen helfen könne. Unsere Sprachlehrerin verließ dann den Ort und kehrte ins Klassenzimmer zurück. Wir folgten kurze Zeit später – immer noch sprachlos von dem gerade erlebten.
Während der darauf folgenden Stunden erhielten wir immer wieder Informationen über den Verbleib des jungen Mannes, da der Sohn unserer Lehrerin beschloss mit ihm ins nächste Krankenhaus zu fahren. Als er wieder kam teilte er uns die Diagnose mit: Erschöpfungszustand. Anscheinend hatte der Mann sein Dorf verlassen, weil er durch eine Überschwemmung alles verloren hatte und Arbeit suchte. Sein Ziel waren die Textilfabriken rund um Dhaka, da er anscheinend nähen kann. Leider blieb seine Suche erfolglos und so blieb ihm keine andere Möglichkeit, als auf den Straßen Dhakas zu leben. Völlig mittellos und seit 4 Tagen ohne Essen und Trinken.
Ich erzähle diese Geschichte nicht, weil ich denke, dass man die allseits bekannte Armut in Bangladesch noch irgendwie reißerisch betonen sollte, sondern weil sie Teil unseres Alltags ist. Jeder Schritt nach draußen ist ein Seiltanz zwischen verschiedenen Welten, zwischen Leben und Überleben. Ich habe noch keinen befriedigenden Weg gefunden mit dieser täglichen Ambivalenz umzugehen, noch möchte ich diesen finden.
Zum Schluss vielleicht ein kleines Happyend: Unsere bewundernswerte Lehrerin hat dem jungen Mann eine Nähmaschine gekauft und wir hoffen alle, dass er sich damit seine Existenz langsam sichern kann.