1.000 Schals für Australien
Nach einer Woche in Netrakona habe ich viel gesehen, erlebt und gelernt. In der letzten Woche habe ich einen Tag in der Handarbeitsabteilung meiner Organisation Sabalamby Unnayan Samity verbracht. Direkt auf dem Campus der Organisation befinden sich die Produktionsstätten. Nach Absprache mit meinem Mentor Dilu begab ich mich also dorthin.
Seit 1986 bildet Sabalamby Jugendliche zu professionellen Schneiderinnen und Färberinnen aus. Das kann für einige Mädchen bedeuten, dass sie nicht als Kinder verheiratet werden. In jedem Fall ermöglicht es ihnen durch ein faires Gehalt und eine sichere Arbeitsstelle den Weg aus der Armut. Und Sabalamby hat die Möglichkeit, durch eigene Einnahmen unabhängig von Spenden zu werden.
Ich sitze am Schreibtisch von Tansina Khan, der Programmkoordinatorin für die Handarbeitsabteilung. Sie sagt mir, ich kann sie Toru nennen, das würden alle tun. Die Atmosphäre ist entspannt. Auf dem Boden stehen Kisten und Körbe voller buntem Klimbim, Schmuck, Täschchen und Haarspangen. Ich zeige auf eine Wäschewanne voller schmetterlingsförmiger Haarnadeln. Toru erklärt: "Das ist für einen dänischen Fairtrade-Handel, 300 Haarnadeln." Ihr Englisch ist gut und sie ist augenscheinlich stolz auf den Erfolg ihrer Abteilung. "2009 war der Absatz nicht so gut. Der Rest der Welt hatte seine eigenen Probleme." Sie spielt auf die Weltwirtschaftskrise an. Klar, dass sich das bei den Ärmsten auch niederschlägt. Später lese ich im Jahresbericht von Sabalamby nach: 14.760 Produkte wurden 2009 mit einem Umsatz von 1.620.386 Taka (knapp 18.000 €) verkauft, hier in Bangladesch, aber auch in Italien, Korea, Australien, Finnland und Dänemark. Ich bin beeindruckt.
Die Produzentinnen hätten etwa 15 Tage gebraucht, um die dänische Haarnadellieferung fertig zu stellen, so Toru. In fünf Abteilungen arbeiten hier circa 120 dieser Produzentinnen. 2009 noch etwas weniger als 90. Die Haarnadeln fallen in den Arbeitsbereich von "Bambus- und Schilfarbeiten". Außer diesem gibt es noch Abteilungen für Batiken, Sticken, Nähen und Weben. Seit diesem Jahr arbeiten nicht mehr nur junge Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren hier. Auch Heranwachsende und Männer arbeiten jetzt in diesem Programm, vor allem stickend oder am Webstuhl. Einige ältere Frauen haben hier ebenfalls ihren Arbeitsplatz gefunden, davon einige aus dem organisationseigenen Schutzhaus für Frauen, die geschieden oder verwitwet sind und dadurch in extreme Armut gedrängt wurden. Hier finden sie ein Zuhause und Arbeit. Wenn extrem viel Arbeit ansteht, werden Frauengruppen der umliegenden Dörfer mit einbezogen und können so etwas Geld dazu verdienen.
Meine Unterhaltung mit Toru wird jäh unterbrochen, als ein Mädchen in Burka mit einer jungen Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm hereinkommt. Sie hat den Schleier nicht vor ihrem Gesicht und man sieht, dass sie eine unangenehme Situation erwartet. Sie schaut zwischen Toru und der Frau, ihrer Mutter, wie ich später erfahre, hin und her, auf den Boden, aus dem Fenster, auf mich, aber das nur kurz, schüchtern. Zwischen Toru und der Mutter entbrennt ein Wortgefecht. Mein Bengalisch ist lange nicht gut genug, um zu folgen. Es klingt nur ziemlich erbost - von beiden. Das könnte allerdings auch eine Eigenheit der bengalischen Sprache oder Dialogkultur sein. Zumindest für mich klingt es sehr oft so, als würde permanent geschimpft.
Nach gut zehn Minuten verlassen die drei das Büro wieder. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nachfragen soll, was passiert ist. Toru beginnt von allein die Sache aufzuklären. Die Frau und ihre Tochter seien Produzentinnen der Handarbeitsabteilung. Vor ein paar Tagen aber habe die Mutter das Mädchen verheiratet. Ich verstehe den Konflikt. Man werde das Mädchen deswegen nicht ausschließen, falls sie weiterhin arbeiten dürfe, so Toru. Allerdings ist es gerade das Gegenteil, was die Näher- und Färberinnenausbildung bewirken soll. Die Mädchen sollen eigenständig ein Gehalt verdienen. Dadurch sollen die Familien nicht darauf angewiesen sein, die Tochter früh zu verheiraten. Die Mutter habe dargelegt, dass ihre Tochter weiterhin arbeiten werde und dass es nicht um Geld ging. Das Thema scheint unangenehm zu sein. Toru beschreibt alles sehr sachlich und kurz. Sie kann schließlich niemandem verbieten zu heiraten, obwohl es Gesetze gegen Kinderehen gibt. Die Familie von der Arbeit auszuschließen würde wahrscheinlich ihre Lebensgrundlage zerstören. Wir sprechen nicht mehr darüber. Die Situation scheint mir unpassend, ich frage nicht weiter nach.
An zwei Tischen vor dem Fenster sitzen Taposh Sarker Rupan und Sarah Diba Chowdhury, beide Designer. Sarah zeigt mir, was sie bereits entworfen hat. Bald sollen neue Designs herausgebracht werden: Kleidung, Muster, Decken. Alles filigran nur mithilfe eines Lineals gezeichnet. Eine neue Decke soll in die Linie aufgenommen werden. Heute wird das Pilotprodukt geschaffen. Sarah fragt mich, ob ich mitkommen möchte in die Produktionshalle. Sie wolle ein Auge auf die Herstellung werfen. Natürlich komme ich mit.
Wir verlassen das Büro und gehen einen langen Gang durch das Produktionshaus. Rechts und links liegen die unterschiedlichen Räume für die einzelnen Abteilungen: ein Raum mit bestimmt 30 Nähmaschinen, in einem anderen Raum malt ein Mann Muster auf Stoffe. "Unser Schneidermeister", stellt Sarah in vor. Etwas weiter befindet sich ein Raum, in dem Jugendliche um Stickrahmen sitzen und bunte Verzierungen in den Stoff arbeiten. Dann - man hat es bereits kommen hören - der Raum mit den Webstühlen. Das unaufhörliche, rhythmische Klacken hat etwas Meditatives.
Wir betreten den letzten Raum auf der linken Seite des Gebäudes. Es riecht nach Feuer. Auf mehreren Böcken ist eine rund fünf Meter lange Bahn weißer Stoff gespannt. Darum herum stehen drei Mädchen und - im ersten Moment sieht es zumindest so aus - malen darauf. Der Raum ist durchzogen von Rauch, langsam verstehe ich. Die Mädchen malen nicht, sie halten in ihren Händen eine Art Füllfederhalter, nur ohne Feder, dafür mit einem kleinen Behälter mit Loch an der Spitze. In diesen Behälter füllen sie regelmäßig Wachs nach, das in einem Topf auf einer Feuerstelle vor dem Fenster erhitzt wird. Mit diesem Wachs ziehen sie mit Bleistift auf den Stoff vorgemalte Muster nach. "Diese Stellen werden nach dem Batiken weiß bleiben", versucht Sarah mich auf meinen etwas verwirrten Blick hin aufzuklären. Ich hab so etwas noch nie gesehen, aber bin begeistert von der Einfachheit und doch Raffiniertheit dieser Vorgehensweise. Sarah sagt, wenn ich es ausprobieren möchte, solle ich es besser auf einem Stoffrest versuchen, da diese Arbeit eine gute Kontrolle der Hand erfordere. Ich will es auf jeden Fall demnächst einmal versuchen.
Im hinteren Teil der Halle befindet sich ein langgezogener Tisch auf dem sich Sand in einer Form über die ganze Länge befindet. Darauf liegt schon der Stoff, der einmal die neue Decke werden soll. Ashamony, eine Produzentin, steht davor. Sie hat auf uns gewartet. Ich erfahre, dass sie schon seit vier Jahren für Sabalamby arbeitet und das sehr gut. Sie ist die jüngste von vier Schwestern. Mit 14 Jahren hat sie an einem Training von Sabalamby teilgenommen und danach die Ausbildung begonnen. Man sieht ihr ihre 18 Jahre nicht an, ihr Gesicht wirkt kindlich. Vielleicht liegt das an dem Rauch, der alle Konturen sehr weich erscheinen lässt. Sarah erklärt ihr das Design für die Decke und zeigt ihre aufwendige mit Tusche gefärbte Zeichnung. Sie will wohl ganz sicher gehen, dass es genauso wird, wie sie es sich vorstellt.
Ashamony beginnt mit der Arbeit. Für das Muster hat sie einen vorgefertigten Stempel aus Eisen mit einem Holzgriff. Sie taucht ihn abwechselnd in das heiße Wachs, schüttelt das Überschüssige ab und drückt ihn auf den Stoff. "Der Sand verhindert, dass das Wachs verläuft und sorgt für gerade Ränder", beschreibt Sarah den Prozess. Stempel für Stempel bildet sich das hellgelbe Wachsmuster auf dem Stoff. Ab und zu zeigt Sarah Ashamony, wie sie schwierigere Stellen am besten bewältigt. Beide scheinen zufrieden mit dem Vorgang.
Ich frage, wie teuer die Decke einmal sein wird. Sarah antwortet, dass sie den Preis erst festlegen, wenn sie sicher sind, dass sie mit der Decke in Produktion gehen wollen. Allerdings ist es Handarbeit, die Materialien sind hochwertig, die Arbeiterinnen werden nicht ausgebeutet. Das hat alles seinen Preis. Wahrscheinlich werden sich nur wohlhabendere Bangladeschis diese Decke leisten können.
Ich nehme mir vor, die Handarbeitsabteilung nun öfter zu besuchen. Sie erscheint mir wie ein Sinnbild für Hoffnung auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Auf meine Frage, ob ich irgendwann einmal mitarbeiten darf, antwortet Toru, dass im nächsten Monat 1.000 gebatikte Schals nach Australien verschickt werden sollen. Da würde jede Hand gebraucht. Sie lacht: "Du bist herzlich willkommen!".