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Versprechen der Unabhängigkeit

Karte Dorfgruppe map partizipation

Von Meghna Guhathakurta

Seit der Unabhängigkeit Bangladeschs gibt es viele Nichtregierungsorganisationen und Forschende, die sich mit dem Thema Diskriminierung und Unrecht befassen. Dabei hat die „Gonogobeshona“ (partizipative  Aktionsforschung) einen innovativen Ansatz gebracht: Die Betroffenen werden einbezogen – und im Anschluss selbst Akteure im Kampf für Gerechtigkeit.

Als Schüler im Südwesten Bangladeschs wurde Milon Das von Gemeindevorstehern einst ermahnt, weil er Was­ser aus einem Glas getrunken hatte, das für Hindus der hö­heren Kaste und Muslime der Mehrheitsbevölkerung re­serviert war. Als Dalit – also ein von der Mehrheitsge­sellschaft als „unberührbar“ Ausgeschlossener – hätte er ein anderes Glas benutzen müssen. Er wurde von ei­nem lokalen Schlichtungsrat für schuldig befunden, gegen soziale Normen verstoßen zu haben. Er wurde aufgefor­dert, sich bei dem Ladenbesit­zer zu entschuldigen und für das Glas, das er „beschmutzt“ hatte, zu zahlen – eine Geld­strafe, die sich weder Milon noch sein Vater leisten konn­ten. Milons sozial engagierter Schulleiter hatte sich darauf­hin eingeschaltet und gesagt, er komme für ein neues Glas auf. Aber Milon dürfe sich auf keinen Fall bei dem Ladenbe­sitzer entschuldigen müssen. Das Benutzen des Glases sei sein Menschenrecht.

Chaitonno Das stammte aus einer armen Hindu-Familie, die Eltern waren in der Land­wirtschaft tätig und gehörten zu einer Kaste, die traditionell in der Ledergerberei und ähn­lichen Arbeiten tätig ist. Da sein Vater an einer Lähmung litt, musste der zehnjährige Chaitonno mit seiner Mutter auf dem Feld arbeiten, um die Familie zu ernähren. Er muss­te zudem in anderen Haushal­ten als Helfer arbeiten, wurde dabei mehrfach misshandelt. Er wollte immer ein besse­res Leben haben und schaff­te schließlich seinen Schul­abschluss. So begann der lange Weg hin zu Selbstbe­stimmung für ihn.

Diese beiden – Milon und Chaitonno – sind in einem Land geboren, das vor 50 Jah­ren durch einen blutigen Bür­gerkrieg zur Volksrepublik Bangladesch wurde. In der Verfassung heißt es: „Der Staat darf seine Bürger nicht allein aus Gründen der Reli­gion, der Rasse, der Kaste, des Geschlechts oder des Geburts­ortes diskriminieren“ (Artikel 28, Absatz 1). Doch, wie die­se zwei Beispiele zeigen, spie­gelte sich das nicht im Le­ben aller Bürger wider. Nur durch einen langen Prozess des persönlichen und sozia­len Kampfes konnten Betrof­fene Gleichbehandlung beim Zugang zu ihren Grundrech­ten auf Bildung, Gesundheit und anderen Dienstleistun­gen erreichen, die der Staat ihnen versprochen hatte. Auf ihrem Weg fanden sie Freun­de und Verbündete: Vertreter der Kirche, Nichtregierungs­organisationen (NGOs) und Vorreiter etwa für die Rech­te von Dalits. Und inzwischen sind sie selbst engagiert im Kampf für Gerechtigkeit: Mi­lon Das ist heute Geschäfts führer einer von Dalits geführten NRO namens Pa­rittran (Rettung). Chaiton­no Das arbeitet bei der Orga­nisation Research Initiatives Bangladesh, die zur Situati­on von marginalisierten Ge­meinschaften forscht. Er ist zudem Kulturschaffender in seiner eigenen Gemeinde und ermutigt die jüngeren Generationen zu Bildung – als Befreiung von der Unter­drückung, mit der die Vor­fahren in ihrem täglichen Leben konfrontiert waren.

Ich lernte Milon und Chaiton­no Anfang 2000 durch das Programm für partizipative Aktionsforschung (Partici­pative Action Research, PAR) der Organisation Research Initiatives Bangladesh (RIB) kennen. Das Ganze heißt im Volksmund auf Bengalisch „Gonogobeshona“ und kann in etwa mit Volksforschung übersetzt werden. RIB wur­de 2002 von Pädagogen und Intellektuellen gegründet, um Forschung zur Armutsbe­kämpfung auf mehreren Ebe­nen (wirtschaftlich, politisch und sozial) zu unterstützen. Das konzentriert sich auf die am stärksten Ausgegrenz­ten, also jene, die nicht in die gängige Entwicklungsagen­da von Regierungen und aus­gewählten NGOs betriebe­nen Entwicklung einbezogen sind. Ziel dieser Forschung war es, Wissen und Innova­tion auf experimenteller und praktischer Ebene zu stär­ken. Also bei den Menschen zu sein, sodass selbstständi­ges Handeln der Betroffenen, ihre politische Orientierung und ihre sozialen Bewegun­gen sowie entsprechende Un­terstützung gefördert werden konnten. Die PAR, die in der Geschichte Südasiens eine lange Tradition hat, wurde als Instrument gewählt, um marginalisierte Gruppen an­zusprechen. Dieser Ansatz musste aber zunächst einmal umgesetzt und im jeweili­gen lokalen Kontext der Men­schen gestartet werden.

Es gibt mehrere Anekdoten, die verdeutlichen, was das heißt. Eine davon stammt von Milon: Nach einer dreitägigen Schulung von RIB zur parti­zipative Aktionsforschung kehrte er in sein Dorf zurück. Um zu demonstrieren, was er gelernt hatte, nahm er seinen Bekannten, Pater Sergio, mit zum Treffen einer Frauen­gruppe. Diese sprachen über ihr Leben im Allgemeinen, ihre Probleme und Möglich­keiten, diese zu lösen. Pater Sergio war mit dem Prozess zufrieden, aber nach ein paar Tagen kam er verwundert zu Milon zurück. Er sagte, dass die Frauen im Anschluss un­bedingt wissen wollten, wann sie sich das nächste Mal zu ei­ner solchen Diskussion zu­sammensetzen würden. Sie erwarteten offenbar, selbst­ständig weiterzumachen. Also fragten die beiden die Frauen und diese gaben be­reitwillig ihre Antwort: „Es kommen viele NGOs zu uns, um unsere Probleme zu be­sprechen. Aber wenn sie kom­men mit ihren Akten unter dem Arm sagen sie Dinge, die über unsere Köpfe hinwegge­hen.“ Als Milon mit seinem Ansatz gekommen sei, sei das anders gewesen, erklärten die Frauen. „Wir konnten mit un­seren eigenen Erfahrungen, unseren eigenen Gedanken zu den Diskussionen beitragen.“ Danach wurden die Frauen schließlich zu Milons erstem „Gonogobeshok“-Projekt.

Der PAR-Ansatz zusammen mit den marginalisierten Da­lit offenbarte interessan­te Dimensionen: Anstatt die Forschung als einen eher lei­denschaftslosen Prozess zu begreifen, wie es viele Aka­demiker tun, wurde sie hier durch das Mitgefühl und Nah-dran-Sein dieser Akti­onsforscher verinnerlicht, die aus ihren persönlichen Erfah­rungen Kraft für ihre Arbeit schöpften. Eine Gruppe von „Gonogobeshoks“ beschrieb das so: „Viele von uns, die an modernistische Forschungs­paradigmen gewöhnt sind, neigen dazu, diese Mensch­lichkeit und das Mitgefühl zu vergessen, die in den For­schungsprozess eingebettet sind.“ Es geht also um die Su­che nach der Wahrheit mit den Menschen.

Die endgültigen Antwor­ten oder Lösungen ihrer Ak­tionsforschung werden am Ende schließlich den Teilneh­mern überlassen. In Bangla­desch beispielsweise haben Dalit-Gemeinschaften genau das getan: Sie haben die Er­gebnisse ihrer Forschungen – also Problemanalysen, Un­rechtsbewusstsein, struktu­relle gesellschaftliche Prob­leme – sichtbar gemacht und bei sozialen Bewegungen ein­gebracht, die Betroffene star­teten. Sie leiten mitunter selbst NROs, um gegen Miss­stände zu kämpfen, andere setzen sich für politische Be­lange ein. Wieder andere, wie Chaitonno Das, achten da­rauf, bei allem, was sie tun, ein menschenwürdiges Le­ben zu führen - und dasselbe für künftige Generationen in ihren Familien und Gemein­schaften zu gewährleisten.

Die Autorin ist Direktorin der Nichtregierungsorganisation Research Initiatives, Bangladesh.

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