„NGOs haben eine wichtige Rolle bei der Entwicklung Bangladeschs gespielt“

Bangladesch hat nach der Staatsgründung einige der innovativsten und womöglich auch die meisten Nichtregierungsorganisationen (NGO) der Welt hervorgebracht. Die Organisationen haben den Staat nach dem langen Bürgerkrieg und angesichts vieler struktureller Defizite mit aufgebaut. Die Meinungen über NGOs gehen dabei auseinander – auch wenn klar ist, dass diese eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des Landes gespielt haben. David Lewis und Naomi Hossain, Expert*innen und Praktiker*innen von Entwicklungsarbeit mit langjährigem Fokus auf Staat und Gesellschaft in Bangladesch, erörtern im Zwiegespräch, warum das so ist.
Naomi Hossain: Warum ist es wichtig, sich mit der Rolle von NROs in Bangladesch auseinanderzusetzen, wo das Land bereits 50 Jahre alt wird?
David Lewis: Dafür gibt es viele Gründe. Erstens war die NGO-Gemeinschaft in Bangladesch so einflussreich und profiliert wie kaum woanders. Zweitens bieten die Organisationen einen interessanten Einblick in die Gesellschaft, die Institutionen und die Geschichte des Landes. Sie sind nach dem Unabhängigkeitskrieg 1971 quasi zusammen mit dem neuen Staat entstanden und haben ihn – also die Regierungen und Machthaber – manchmal unterstützt und manchmal herausgefordert. Die NGOs haben in Bangladesch in einer ganzen Reihe von Bereichen eine wichtige Rolle bei der Landesentwicklung gespielt, im Gesundheits- und Bildungssektor etwa oder bei der humanitären Hilfe.
Hossain: Eine der bekanntesten Organisationen im Land ist BRAC. Diese ist heute aber so groß und vielfältig, dass sie die Grenzen des Konzepts einer NGO sprengt. Sie ist inzwischen wie ein multinationales Unternehmen, nur ohne vordergründiges Profitmotiv.
Lewis: BRAC ist wohl einzigartig, nicht nur wegen des Umfangs (die Organisation ist die größte weltweit, in allen bangladeschischen Distrikten sowie in anderen asiatischen Ländern und Afrika aktiv), sondern auch weil sie immer weiterstrebt und Tätigkeitsfelder erschließt. Ein Grund für diese Besonderheit könnte die relativ kompakte geografische Lage Bangladeschs im Vergleich zu seiner großen ethnisch relativ homogenen Bevölkerung sein. So ist eine ähnlich große Organisation in Nepal aufgrund der geografischen Gegebenheiten oder in Sri Lanka aufgrund der sprachlichen und ethnischen Vielfalt nur schwer vorstellbar.
Hossain: Solche nationalen Organisationen haben mit ihrer Arbeit im Bildungs- und Gesundheitssektor oder bei der humanitären Hilfe mit neuen sozialen Praktiken das Land verändert. Dabei haben sie das Bewusstsein für Menschenrechte und Frauenrechte geschärft und Bangladesch auch geholfen, dabei eine gewisse nationale Integration zu erreichen. Zumindest sind die Idee der Menschenrechte und etwa auch das Gefühl der Staatsbürgerschaft heute im ganzen Land bekannt.
Allerdings ist die Grundlage dafür in einem vergleichsweise kurzen historischen Moment geschaffen worden – als NGOs und die Zivilgesellschaft einen enormen Spielraum hatten, da die Regierungen es zuließ, dass sich auch aus dem Ausland finanzierte Organisationen entfalten konnten. Der Wert war erkannt worden. Wie wir aber jetzt sehen, schrumpft dieser Raum überall auf der Welt. Es war eine historische Anomalie, die es den NGOs ermöglichte, in der Art und Weise und in dem Ausmaß zu entstehen, wie sie es in Bangladesch taten, oder?
Lewis: Ich denke, das ist richtig. Die NGOs haben sich und ihre Arbeit zwar durch „internationale Hilfe“ und den entsprechenden Einfluss internationaler Politik entfaltet. Aber es gab eben auch eine Tradition der Wohltätigkeit und Selbsthilfe, des Aktivismus und der sozialen Bewegungen im Land. Dabei hat die internationale Hilfe den NGO-Sektor in Bangladesch nicht so stark geprägt wie in vielen anderen Ländern des Globalen Südens. Weil jene Traditionen in Bangladesch bereits stark ausgeprägt waren. Sie sind auch aus den Visionen von Aktivisten entstanden, die alternative, partizipativere Formen der Entwicklung für notwendig hielten. Solche progressiven Entwicklungsbewegungen können in Verbindung zu jenen Bewegungen gesehen werden, die zum Unabhängigkeitskampf in Bangladesch 1971 beigetragen haben. Die NGO-Szenen in anderen Ländern (ausgenommen die Philippinen) waren tendenziell weniger dynamisch – zum Teil, weil sie eben stärker von internationalen Organisationen dominiert wurden. In diesem Sinne hatte Bangladesch seinen eigenen NGO-Sektor immer gut im Griff.
Hossain: Das ist wichtig zu bedenken, denn viele gehen davon aus, dass es die internationale Hilfe war, die das Wachstum der NGOs vorantrieb. Es ist aber komplexer: Diese Hilfe ermöglichte es, diese in Bangladesch vorhandene Energie – also den Wunsch nach Entwicklung, den die Idealisten (nationalistisch oder auch links) hegten – zu kanalisieren. Heute im Land verbreitete Organisationen wie die Wohlfahrtsorganisationen ASA wurde etwa von jungen Radikalen nach dem Unabhängigkeitskrieg gegründet. Und selbst der Gründer von BRAC bezeichnete sich damals als Marxist. Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit – als die linke Politik in den 1970er-Jahren unterdrückt wurde – wurden die NGOs zu Orten, an denen die radikalen Energien der Jugend aufgesogen werden konnten.
Später, in den 2000er-Jahren wandten sich immer mehr NGOs den Mikrokrediten zu und taten weniger, um die Landbevölkerung in der Wahrnehmung ihrer Rechte zu stärken. Dafür wurden sie von einigen kritisiert: Sie wenden sich den Märkten zu, anstatt etwas für die Menschen zu tun. Und sie tragen dazu bei, eine neue NGO-Monokultur der Dienstleistungen zu schaffen. Wobei die Mikrokredite auch als ein Versuch von Nachhaltigkeit gesehen werden kann – die Mikrofinanzierung trug dazu bei, die Kosten für ihre anderen Aktivitäten zu decken, etwa die Unterstützung von Frauen bei der Organisation ihrer Rechte.
Lewis: Ja – und wir vergessen manchmal, dass es bei der Mikrofinanzierung ursprünglich auch darum ging, den ausbeuterischen ländlichen Geldverleih zu thematisieren sowie Armut, geschlechtsspezifische Ungleichheit und Ohnmacht zu bekämpfen. Ein Teil der Geschichte der Mikrofinanzierung ist eine Kritik an solchen unterdrückerischen lokalen Institutionen. All das wird oft vergessen. Die Gründerin von Nijera Kori, einer der wenigen großen NGOs, die keine Kredite vergibt, hat oft berichtet, wie Aktivisten in den Anfängen die Verbindungen zu den Eliten des Landes nutzten, um überhaupt erstmal die Aufmerksamkeit auf die Armut und Machtlosigkeit in ländlichen Regionen zu lenken. Es gibt oft auch zu einfache Sichtweisen auch auf die Rolle internationaler Hilfe, die mehr als nur eine Form hat. Viele Nichtregierungsorganisationen entstanden etwa im Rahmen von Hilfsbeziehungen, die ursprünglich ebenso von den Grundsätzen der Solidarität und des Aktivismus geprägt waren – nicht lediglich von den üblichen geopolitischen oder „wohltätigen“ Motiven.
Hossain: Nun haben wir darüber gesprochen, dass viele NGOs in Bangladesch in Zeiten entstanden sind, in denen die Regierungen ihnen Raum gaben und Hilfe zur Verfügung stand. Wie sieht das heute und in Zukunft für die NGOs in Bangladesch aus?
Lewis: Die Organisationen sind nach wie vor stark im Land verwurzelt, aber die internationalen Entwicklungstrends haben sich verändert Und das wiederum wirkt sich auf die zur Verfügung stehenden Mittel aus und schränkt die Reichweite des NGO-Sektors ein. Während NGOs und die Zivilgesellschaft in den 1990er-Jahren im Fous standen, konzentriert sich die heutige Auslandshilfe viel stärker auf die Wirtschaft und den Privatsektor. Ich denke, dass viele Bangladescher NGOs heute daher auch mit einer altmodischen Denkweise in Verbindung bringen.
Hossain: Finanzen und Technologie sind heute sehr wichtig. Ich nenne es „Drone Development“ (Drohnen- Entwicklung). Man kann sich sozusagen aus der Ferne mit der Armut beschäftigen. Das ist allerdings ein ganz anderer Ansatz als der von jenen NGOs und der Zivilgesellschaft, bei dem es darum geht, sich direkt mit den betroffenen Menschen zu beschäftigen.
Lewis: Es geht auch um eine veränderte Auffassung davon, was „Innovation“ bedeutet. In den 1980er-Jahren wurden die NGOs oft als Innovatoren gepriesen, aber dabei ging es nicht so sehr um Technologie oder Wirtschaft, sondern eher um soziale und organisatorische Innovation. Die heutige Version ist eher eine ultra-technische, turbokapitalistische Version der Entwicklungsinnovation. Frühere gefeierte NRO-Innovationen wie die Mikrofinanzierung oder die die Verteilung von Elektrolytlösung zur Hilfe bei massenhaften Durchfallerkrankungen waren einfache, praktikable Ideen, die aus der Auseinandersetzung mit dem Leben der Menschen entstanden sind.
Obwohl der Einfluss der NGOs größtenteils abgenommen hat, gibt es in Bangladesch immer noch einen vielfältigen, kleineren Nichtregierungssektor. Mit potenziell produktiven Spannungen zwischen den Bereichen Aktivismus, Freiwilligenarbeit, Wirtschaft und Sozialunternehmertum. Und mit Wiedersprüchen: Es gibt Organisationen, die Kinderbetreuungsdienste für Fabrikarbeiter anbieten, also zwar positive soziale Auswirkungen haben können. Sie ermöglichen es der Bekleidungsindustrie so aber wohl auch, Arbeiter weiterhin auszubeuten. Es gibt andere Organisationen, die mit radikalen Bewegungen und Gruppen zusammenarbeiten, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen – und andere, die mit der Regierung zusammenarbeiten, um Reformen voranzutreiben. So zeigt sich ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Arbeitsweisen von Organisationen. Die Rohingya-Krise etwa war ebenso ein enormer Magnet für die Aktivitäten der NGOs im humanitären Bereich.
Hossain: Ja, bei einem Branchentreffen zur Zukunft der NGOs in Bangladesch Anfang 2020, als COVID-19 gerade ausbrach, kamen die Teilnehmer zu dem Schluss, dass humanitäre Hilfe und Krisenreaktion Organisationen die Möglichkeit böten, weiter relevant und wertvoll zu bleiben.
Lewis: Offensichtlich gibt es großen Gesprächsbedarf zu den unterschiedlichen Arbeitsweisen in diesen humanitären Bereichen, die mitunter in Frage gestellt, überdacht und neu erfunden werden müssen. Hoffentlich werden sich die meisten NGOs da nicht auf eine einzige Richtung festlegen. Aber es bleibt eben auch ein Bereich, in dem die internationalen Organisationen nach wie vor große Macht haben.
Zusammenfassend lässt sich wohl sagen, dass es in den vergangenen 50 Jahren – also der Genese des bangladeschischen Staates – verschiedene Epochen mit unterschiedlichen Vorstellungen der Rolle des NGO-Sektors gab. Diese Zeiten sind heute wohl aber vorbei, denn es gibt nun eine Vielzahl unterschiedlicher NGOs haben, die von vielen verschiedenen Werten geprägt sind und unterschiedliche Arbeit leisten. Und das ist letztlich eine gute Sache. Ich bin nach wie vor auch optimistisch, dass Organisationen weiter versuchen, die derzeitige Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raums in Frage zu stellen. Und dass sie die Möglichkeiten, die NGOs bieten können, weiter auszubauen – ob es nun um eine aktivistische Agenda der Rechte, die Entwicklung von Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen oder um Nothilfe, Wohltätigkeit und Wohlfahrt geht.
Der Beitrag ist zuerst im South- Asia-Blog des Asia Centre der London School of Economics erschienen.
