Mit Sicherheit in die extreme Armut
UN sieht weltweit massive Armutsgefahr / Studie aus Deutschland beispielhaft
Die Corona-Pandemie trifft insbesondere die ärmsten Menschen. Nicht nur, weil diese sich weniger vor den gesundheitlichen Gefahren schützen können. Sondern weil sich soziale Sicherungssysteme in der Krise sehr oft als unzureichend erweisen. Die Vereinten Nationen schlagen inzwischen Alarm. Und eine aktuelle Erhebung in der Grenzregion von Indien und Bangladesch zeigt, wie fatal die Auswirkungen sind.
(von Sven Wagner) Wetzlar/Genf/New York – Weltweit sind Regierungen seit mehr als einem halben Jahr im Krisenmodus und versuchen, mit der Corona-Pandemie umzugehen. Doch insbesondere beim Schutz der Menschen, die besonders armutsgefährdet sind oder in prekären Verhältnissen leben, drohen die Bemühungen zu scheitern. So seien zwar mehr als 1400 Sozialschutzmaßnahmen seit dem Ausbruch von Covid-19 verabschiedet worden, wie der unabhängige Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte der Vereinten Nationen (UN), Olivier De Schutter, jüngst berechnet hat. Doch diese waren dem UN-Experten zufolge weitgehend unzureichend. "Die eingerichteten sozialen Sicherheitsnetze sind voller Löcher", erklärt De Schutter und kritisiert die meisten Maßnahmen als zu kurzfristig und unterfinanziert. Die Zuwendungen reichten oft bei weitem nicht aus, um einen angemessenen Lebensstandard sicherzustellen. Im Gegenteil: De Schutter warnt sogar davor, dass die schlimmsten Auswirkungen der Corona-Pamdemie auf die Armut weltweit noch bevorstehen, wenn bei unzureichender sozialer Sicherung „viele Menschen unweigerlich zwischen die Risse fallen". Demnach könnten infolge der Pandemie noch 176 Millionen Menschen in die Armut fallen.
Was der UN-Experte weltweit prognostiziert, lässt sich gut an einem lokalen Beispiel nachvollziehen: In den beiden Nachbarstaaten Indien und Bangladesch hatten die Regierungen ab März den Lebensalltag der Bevölkerung über Monate hinweg durch sehr strenge Regelungen und sogenannte „Lockdowns“ eingeschränkt, mit dem Ziel die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Die Wirtschaft kam in der Folge streckenweise zum Erliegen, der Personentransport wurde ausgesetzt. Vor allem für die Millionen Menschen in prekären Lebenssituationen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze leben, wurde das rasch zur Existenzfrage. Jene Menschen verdienen ihr Geld zumeist im informellen Sektor – als Tagelöhner, Wander- und Gelegenheitsarbeiter, Straßenverkäufer, Erntehelfer. Quasi über Nacht verloren sie infolge der Einschränkungen ihre Arbeit und haben im Vergleich zur wachsenden Mittelschicht in der Regel keine Ersparnisse. Die logische Folge: Sie rutschen ohne ihre Arbeit in die extreme Armut ab. Doch Schutzprogramme, mit denen der Staat zu kompensieren versucht, bleiben wirkungslos.
Warum? Indien und auch Bangladesch haben – ähnlich wie Deutschland und andere europäische Staaten – Sozialprogramme im Angesicht der Corona-Herausforderungen gestartet. Allerdings bleiben die staatlichen Hilfsleistungen weit hinter den Bedürfnissen der Menschen zurück. Die im hessischen Wetzlar ansässige Menschenrechtsorganisation NETZ, die im Nordwesten Bangladeschs und dem indischen Bundesstaaat Westbengalen Projekte zur Armutsbekämpfung unterstützt, hat die Situation über Monate hinweg beobachtet und eine Umfrage unter den armutsgefährdeten Bevölkerungsteilen durchgeführt. Das Resultat: Von Armut betroffene Menschen, denen dringend benötigte Arbeitsmöglichkeiten weggebrochen sind, haben kaum die in Aussicht gestellten staatlichen Hilfen erhalten. Bei über 90 Prozent der befragten Familien wirkte sich das unmittelbar auf die Ernährung aus. Sie mussten ihre Mahlzeiten reduzieren, Gemüse weglassen und sich auf Reis beschränken – eine deutlich nährstoffärmere Nahrung. Über die Hälfte der Befragten mussten zudem Kleinkredite aufnehmen oder ihr Hab und Gut weggeben, um Lebensmittel kaufen zu können.
Vor allem Bangladesch macht bei dem Vergleich eine schlechte Figur: Während alle Befragten in Indien während der Pandemie Lebensmittehilfen von der Regierung erhielten, hatten in Bangladesch nur gut ein Drittel der Menschen Zugang zu staatlichen Hilfen. Auch der Umfang unterschieden sich die Hilfsmaßnahmen. Rund 80 Prozent der Befragten in Indien erhielten zwischen 30 und 90 Kilogramm Reis als Teil der Lebensmittelunterstützung von staatlicher Seite, während in Bangladesch drei Viertel der Befragten nur weniger als 10 Kilogramm Reis erhielten. Die staatlichen Lebensmittelhilfen in Bangladesch reichten zudem einem Großteil der Befragten (73 Porzent) nur für bis zu 10 Tage, während in Indien über 80 Prozent der Befragten angaben, dass die staatliche Lebensmittelhilfen bis zu 60 Tage ausreichen würden. Der Lockdown dauerte jedoch in Indien 21 Tage, in Bangladesch sogar über zwei Monate – und auch danach blieben die Einkommensmöglichkeiten oft sehr beschränkt.
Dass die Hilfen nicht ausreichen, gilt nicht nur für Südasien. Daten der Weltbank für 113 Länder zeigen, dass 589 Milliarden US-Dollar für den Sozialschutz zugesagt wurden, was etwa 0,4 Prozent des weltweiten BIP entspricht. UN-Angaben zufolge werden diese Initiativen jedoch nicht verhindern können, dass Menschen in Armut geraten. Viele seien von den Sozialschutzsystemen ausgeschlossen, etwa weil Formulare online ausgefüllt werden müsssen oder Bedingungen gelten, die für Menschen in prekären Beschäftigungsformen oder ohne festen Wohnsitz unmöglich zu erfüllen sind.
Die NETZ-Studie kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Die Folgen der Corona-Pandemie gefährden die bisherigen Erfolge bei der Überwindung von ökonomischer und sozialer Benachteiligung sowie Marginalisierung in Bangladesch und Indien“. Zudem heißt es in dem Papier, dass die Konsequenzen der staatlichen Pandemiebekämpfung viele Menschen zurück in die extreme Armut trieben. Regierungen und NGOs müssten daher einen Fokus auf die Bedürfnisse besonders vulnerabler Gruppen legen und spezifische Programme zu deren Unterstützung voranbringen, erklärt NETZ und fordert „dringend ein Engagement der internationalen Gemeinschaft“.
Den UN-Experten Olivier De Schutter hat die deutsche NGO da schon auf ihrer Seite: Bei der UN-Generalversammlung Mitte September in New York forderte er Staats- und Regierungschefs der Welt auf, die Maßnahmen zur Unterstützung der Armen zu verstärken. „Familien in Armut haben inzwischen alle Reserven aufgebraucht und ihr Vermögen verkauft“, sagte er. „Die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die Armut stehen noch bevor“. De Schutt rief dazu auf, die Gunst der Stunde zu nutzen und einen starken, von Menschenrechtsprinzipien geleiteten Sozialschutz zur wirksamen Beseitigung der Armut zu schaffen.
Inwieweit das passiert, bleibt abzuwarten. Denn schon De Schutts Vorgänger, der Australier Philip Alston, sprach Mitte des Jahres von einem „Pyrrhussieg“, was den gegenwärtigen Kampf gegen die weltweite Armut angeht: Es sei ein „ungebührlichen Gefühl immenser Genugtuung und gefährlicher Selbstgefälligkeit“ derjenigen, die auf sinkende Armut weltweit verwiesen. „Wenn man realistischere Messungen anwendet, ist das Ausmaß der weltweiten Armut weitaus größer und die Trends äußerst entmutigend“, sagte der UN-Sonderberichterstatter damals. Schon vor der Pandemie hätten 3,4 Milliarden Menschen – also fast die Hälfte der Weltbevölkerung – von weniger als 5,50 Dollar pro Tag leben müssen. Diese Zahl, so Alston, sei seit 1990 eigentlich kaum zurückgegangen.
Die Studie
Die deutsche Menschenrechtsorganisation NETZ hat im Juli 2020 eine telefonische Umfrage unter 742 Familien, die am Programm zur Überwindung extremer Armut in Nordbangladesch und Ostindien teilnehmen, durchgeführt. Die Ergebnisse als Studie in einer Publikation veröffentlicht. Alle Teilnehmer des NETZ-Programms erhielten während der Pandemie gleichfalls Unterstützung von NETZ in Form von Lebensmittelpaketen, die für den Großteil der Empfänger zwischen 21 und 60 Tagen reichten. www.bangladesch.org/coronastudie