Dossier zur Fußball WM in Katar 2022 Eine Frau kämpft sich zurück
Eine Wahl hat sie eigentlich kaum gehabt. Das wird deutlich, wenn man sich Nazma Khatuns (Name geändert) Lebensgeschichte vergegenwärtigt. Die Frau aus dem Süden Bangladeschs wuchs mit dem Hunger als ständigem Begleiter auf – wie viele Menschen um sie herum. Ihre Heimatregion Satkhira zählt zu jenen im Land mit den meisten Menschen in Armut. Fast der Hälfte der zwei Millionen in dem vom Klimawandel längst angegriffenen Küstendistrikt mangelt es am wichtigsten, neben Essen und Wasser fehlen Medikamente, sichere Behausungen und Bildungsmöglichkeiten.
Nazma Khatun besuchte zumindest eine Grundschule, blieb nach dem Ende der vierten Klasse zuhause und wurde mit 13 Jahren verheiratet. Eltern tun das oft, um in ihrer Armut selbst weniger Versorgungsdruck zu haben und in der Hoffnung, dass es dem Kind in der Schwiegerfamilie besser geht. Nazma Khatun ging es nicht besser. Sie kam aus dem einen Elend in ein neues. Ihr Bräutigam war Tagelöhner, seine eigene Familie in großer Not. Jahrelang ging das so. Die Tochter, die Nazma Khatun später bekam, ist inzwischen auch verheiratet, wohnt zusammen mit dem eigenen Kind und einem unzuverlässigen Ehemann, der ihr vom Lohn als Lkw-Fahrer kaum etwas lässt. Die Armut der Frauen, sie vererbt sich.
Ein Wahnsinnslohn
Inzwischen ist Nazma Khatun mit 35 Jahren also bereits Großmutter. Und hat eine Lebenserfahrung gemacht, die man niemandem wünscht. Es begann 2015. Ein Nachbar hat der Frau einen Mann vorgestellt, der sie ins Ausland mitnehmen würde. Dort könne sie in einem Privathaus arbeiten. Bis zu 25.000 Taka (rund 250 Euro) im Monat könne sie so verdienen, hieß es. Ein Wahnsinnslohn für Menschen wie Nazma Khatun. Dafür müsse sie aber 150.000 (1.500 Euro) Taka zahlen, als Vermittlungsgebühr sozusagen. Eine Summe wiederum, die die Familie unmöglich aufbringen konnte. Man beratschlagte sich, und Nazma Khatun sagte ab. Doch der Mann fragte erneut, drängte und überredete sie schließlich. Von Verwandten liehen sich die Eheleute Geld, nahmen einen Mikrokredit auf. Dann wurde Nazma Khatun zum Einführungsgespräch und einem Medizincheck eingeladen.
Bangladesch ist wohl das, was man ein typisches Land von Arbeitsmigrant*innen nennen könnte. Seit der Unabhängigkeit 1971 ist die Zahl der Arbeiter*innen, die dauerhaft im Ausland leben und arbeiten, kontinuierlich gestiegen. Und damit auch die wichtigen Auslandsdevisen, die die Migrant*innen in das Heimatland zurücküberweisen. Bis vor weniger als zehn Jahren lag sie wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge bei rund einer halben Million Menschen, wobei nur die Hälfte davon Fach- oder zumindest gelernte Arbeiter waren. Der Rest verdingte sich ungelernt als Tagelöhner oft in typischen Bereichen wie der Bauwirtschaft oder der Hauswirtschaft. Anders gesagt: Männer schuften auf Baustellen, während Frauen in Privathaushalten nicht minder schwer rackern. Zielregion Nummer eins: Der mittlere Osten beziehungsweise die arabische Halbinsel. Acht von zehn der Top-Migrationsländer für Bangladeschis liegen dort, auf Rang eins: das Sultanat Oman.
Hoffnung und Fragenzeichen
Dorthin startet am 20. Mai 2015 eine Maschine vom Flughafen von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Mit an Bord: Nazma Khatun, samt ihrer Hoffnung, Träume und auch vieler Fragezeichen. Denn sie weiß kaum etwas über ihre nahe Zukunft, Bedingungen der Arbeit, Ansprechpersonen. Für die Frau, die noch nie ihre Heimat verlassen hat, ist es eine Reise ins unendlich weit entfernte Ungewisse.
Und diese Reise wird zu Alptraum. Gleich nach der Ankunft werden ihr Reisepass und Visum abgenommen. In dem Privathaus, in dem sie arbeiten soll, leben 30 Menschen. Sie wird zum Dienst herangezogen und muss von fünf Uhr morgens bis nachts weit nach Mitternacht bereitstehen, um zu schuften: putzen, Wäsche waschen, bügeln, kochen und spülen.
Nazma Khatun wohnt in einem kleinen Kämmerchen. Das Essen, dass sie bekommt, findet sie schrecklich. Sie hat „brennenden“ Hunger, trinkt dagegen viel Wasser, an dem sie beinahe heftig erkrankt. Obwohl es ihr gar nicht gutgeht, muss sie weiterarbeiten. Manchmal wird sie zu Verwandten ihrer Arbeitgeber geschickt, um auch dort sauberzumachen.
Und: Die Arbeitsmigrantin aus Bangladesch spricht von Gewalt. Die Hausherrin habe sie geschlagen, wenn sie nicht zufrieden war. Deren Mann habe sie bedrängt und sexuell missbraucht. Und er habe zugeschlagen, wenn sich Nazma Khatun zu wehren versuchte. Und nicht nur dann. Auch wenn sie ihren Lohn einforderte, habe sie Schläge bekommen. 6000 Taka (60 Euro) erhielt sie, und das unregelmäßig. Wahnsinnige Strafen und großes Leid statt einem ordentlichen Verdienst.
Zwei Jahre Leiden
Zwei Jahre dauerte der Leidensweg der Bangladescherin. Zwei Jahre, in denen sie verstand, dass sie hereingelegt wurde und dass sie Opfer von Menschenhändlern geworden war. Jahre des Bangens. Denn Nazma Khatun wusste nicht weiter, sie war ganz auf sich allein gestellt. Nachdem sie mit ihren „Arbeitgebern“ sprach und sagte, sie wolle zurück nach Hause, blockten die ab. Man habe Khatun schließlich teuer „eingekauft“. Sie ließen die Frau nicht gehen, untersagten ihr den Kontakt zu ihrer Familie. Nazma Khatun weinte. Zu dieser Zeit ständig.
Dann gelang ihr die Flucht. An einem Tag konnte sie unbemerkt das Haus verlassen und ging zu dem Vermittlungsbüro, dass sie kannte. Auch dort machten die Mitarbeiter Druck und sagten, sie solle wieder an die Arbeit gehen. Doch Nazma Khatun kündigte in all ihrer Verzweiflung an, sie wolle „lieber tot sein, als dorthin zurückkehren“. Im Juli 2017 schließlich schickte das Büro sie zurück nach Bangladesch.
Schwierige Rückkehr
War das das gute Ende eines Alptraums, wie ihn neben Nazma Khatun Berichten zufolge sehr viele andere Migrant*innen aus Südasien erleben? Wohl kaum. Denn zurück in Bangladesch stand die Frau mit ihrer Familie vor dem Nichts. Sie hatte kaum Geld verdient, noch Schulden für die Vermittlung abzuzahlen und obendrein mit dem tiefsitzenden Trauma, der Depression und den Verletzungen durch ihr Martyrium in Oman zu kämpfen. Außerdem war sie als gescheiterte Rückkehrerin nun eine Aussätzige - diese Form der gesellschaftlichen Diskriminierung trifft insbesondere Frauen hart.
Ihr Glück im großen Unglück sind ein lokaler Verwaltungsmitarbeiter in ihrer Heimatgemeinde, der von ihrem Fall gehört hatte, und eine lokale NGO mit dem Namen Agrogoti. Diese engagiert sich für die Einhaltung von Menschenrechten und unterstützt gezielt Personen, die Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Als Nazma Khatun nach Bangladesch zurückkehrt, stellt der Beamte den Kontakt zwischen der Frau und Agrogoti her, Nazma Khatun wird aufgenommen.
In Anbetracht der schweren psychischen Belastung für die Frau und ihre Familie gibt es zunächst ausführliche Beratungsgespräche. Nazma Khatun muss aus ihrer Depression geholt werden und braucht Mut, denn sie kehrt als Gescheiterte in ihre alte Gesellschaft und Nachbarschaft zurück. Allein abfällige Bemerkungen oder Schadenfreude über die glücklose Auswanderin können das Trauma verschlimmern.
Eine neue Zukunft
Nazma Khatun geht es nach den Gesprächen besser, sie fühlt sich in der Lage, Entscheidungen treffen zu können. Und vor allem: Sie möchte sich selbst helfen und entscheidet sich dazu, ein kleines Bekleidungsgeschäft aufzubauen. Sie bildet sich im Schneidern fort und lernt, wie sie solch ein Kleingewerbe managt. Der Anschub dafür, also auch Stoffe, wird gestellt. Dann beginnt sie von zuhause aus mit ihrer Arbeit.
Seitdem verdient Nazma Khatun 5000 Taka im Monat (50 Euro) – so viel, wie sie unregelmäßig als Haushaltshilfe in Oman bekam. Doch die 35-Jährige muss nicht mehr fast 20 Stunden an einem Tag schuften. Sie ist bei ihrer Familie, hat Zeit, und im ländlichen Bangladesch ein genügendes Auskommen. Vor allem aber hat sie sich durch die Beratung und Unterstützung nach ihrer Heimkehr zurück ins Leben gekämpft – und ihre Freiheit wiedererlangt.
Der Text basiert auf dem Bericht, den die NGO Agrogoti nach einem ausführlichen Interview mit Nazma Khatun erstellt hat. Seit 2022 ist Agrogoti neue Partnerorganisation von NETZ im Projektbereich "Ein Leben lang genug Reis".
Symbolfoto: Sven Wagner