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Renate Künast im Interview „Bei ,Rana Plaza‘ ist der Faden gerissen“

Sie waren zu Besuch in Bangladesch. Welche Eindrücke haben Sie mitgenommen? Da ist das Gefühl, dass sich die Dinge widersprüchlich entwickeln. Es gibt einerseits ein autokratisches Regierungssystem, das Druck bei der freien Meinungsäußerung ausübt, andererseits – etwa im Textilbereich, wo es um den Export nach Europa geht – verändert sich viel. Zehn Jahre nach dem „Rana Plaza“-Einsturz kann man festhalten: Es war richtig, damals von europäischer Seite auf Veränderung bei gesetzlichen Mindestlöhnen oder Kontrollen durch die Internationale Arbeitsorganisation in Bangladesch zu drängen. Genauso war es richtig, weitere Debatten, etwa zum Thema Lieferketten, in Deutschland und Europa zu führen. Wir sind aber noch lange nicht da, wo wir hin wollen.

Ging es bei ihren Gesprächen also auch um die Textilindustrie? Inwiefern hat das Thema Menschenrechte dabei eine Rolle gespielt? Ja. Die damals schnellen Reaktionen nach „Rana Plaza“ haben den Textilarbeiter:innen etwas gebracht. Auch haben sich exportorientierte Firmen in Bangladesch durchweg gewandelt. Die Unternehmen wissen, wie sich ihr Betrieb präsentieren muss, um zuverlässig begehrte Aufträge internationaler Modemarken zu bekommen. Sicherheitsfragen in Textilfabriken wurden thematisiert, es gibt Notausgänge, Feuerlöscher, Medizinpersonal vor Ort. Der Mindestlohn hat sich seitdem etwas gesteigert. Man muss jedoch dranbleiben. Bei meinen Gesprächen kam etwa die Frage nach Unfallversicherungen auf; es gibt noch kein ausfinanziertes System.

Was sind nach wie vor weitere Herausforderungen? Der Gewerkschaftsbereich braucht eine weitere Entwicklungsstufe. Ein Großteil der Gewerkschaften ist sehr personen- und betriebsorientiert. Es braucht ein gewerkschaftliches Dach, mit nur so vielen einzelnen Verbänden ist man nicht schlagkräftig. Außerdem gibt es die wichtige Frage der Unfall- und Altersvorsorge. Wie kann die gestaltet werden, wie soll eingezahlt werden? Das ist aber ein systemisches Problem im ganzen Land, also in allen Arbeitsbereichen. Ein Weiterer Wunsch, den Textilarbeiter:innen äußerten, war der nach der Unterstützung für Studium und Ausbildung ihrer Kinder. Textilunternehmen erzielen hohe Gewinne, da könnte ein Bildungsfonds ein richtiger und zumutbarer Weg sein. Schließlich braucht es Bildung und Qualifikation, damit sich das 160-Millionen-Einwohner- Land weiterentwickelt.

Mindestlohnverhandlungen stehen bevor, es könnte sogar deutliche Erhöhungen in der Branche geben. Die Frage ist: Wie verhalten sich internationale Modemarken, also die Einkäufer? Und wie entwickelt sich die Energieversorgung in Bangladesch? Erhöhte Energiekosten, Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Klimawandel und die damit verbundene Transformation sind alles Faktoren, die sich darauf auswirken und eine Erhöhung von Löhnen schwierig machen. Bemerkenswert ist aber, wie viele Textilunternehmen in Bangladesch selbst vorangehen, „grün“ werden und auf nachhaltigere Energieversorgung setzen, etwa mit Solarpanels auf den Dächern. Die internationale Modeindustrie muss sich heute angesichts von Umweltfragen rechtfertigen, selbst die Entwicklungspolitik muss gut begründen, wo und was sie mit Geld unterstützt. Das zeigt zugleich, dass wir einen Schub auslösen konnten – auch für mehr Arbeiterrechte. Das ist wichtig, denn demokratische Prozesse im Land müssen weiter gestärkt werden. Und keine Marke hier soll glauben, hier erfolgreich tolle Mode zu miesen Löhnen dort anbieten zu können.

Textilarbeiterinnen stehen zwischen Verehrung als „nationale Heldinnen“, die Devisen bringen, und hemmungsloser Ausbeutung in ihren Jobs durch das internationale Textilgeschäft. Wie haben Sie das vor Ort erlebt? Ich habe da nichts „Heldinnenhaftes” erlebt. Die Frauen haben ein besseres Einkommen als früher, freuen sich über verbesserte Bedingungen im Betrieb, zugleich sind aber die Lebenskosten massiv gestiegen. Und man sieht, dass besser bezahlte Aufgaben standesgemäß von Männern wahrgenommen werden. Der Supervisor am Ende der Arbeitstische ist meist ein Mann. Es ist schwierig für Frauen, Höchstlöhne zu erreichen. Und auf der anderen Seite stehen da deren Familien, die vor allem auf ein festes Einkommen angewiesen sind.

Seit diesem Jahr gilt das Lieferkettengesetz in Deutschland. Wird es etwas an den Bedingungen der Herstellung in Bangladesch ändern? Es ist kurios: Vergangenen Jahres wurde in der politischen Debatte in Deutschland noch kurz vor Schluss das Argument befeuert, das Gesetz schade der Wirtschaft. Man hat das in Bangladesch mit Erstaunen verfolgt, denn dort haben sich Unternehmen darauf eingerichtet, Reaktionen auf das Lieferkettengesetz waren positiv. Firmen haben längst Verbesserungen etwa im Sicherheitsbereich geschaffen und gezeigt: Wir sind auf höhere Standards eingestellt, wettbewerbsfähig und entwickeln uns weiter. Sie können zeigen, dass sie moderne Unternehmen sind, die auch in der Öffentlichkeit nichts zu fürchten haben.

Trotzdem bleibt Kritik an dem Gesetz. Etwa, dass eine zivilrechtliche Haftungsregelung fehlt, weswegen Betroffene in der Produktion kaum Chancen auf Klage-Erfolg haben. Es bleibt politisch viel zu tun. Inzwischen führen wir die Debatte auf EU-Ebene und erwarten ein EU-weites Lieferkettengesetz, das hoffentlich noch stärker wird, in der Kette noch weiter zurückgeht und zivilrechtliche Haftung einschließt. Es war ein langer Weg, Aufmerksamkeit für die Ausbeutung zu schaffen. „Rana Plaza hat dann den Faden zum Reißen gebracht. Mittlerweile haben wir zumindest sektoral viel erreicht. Es traut sich mittlerweile kein Unternehmen mehr, Subunternehmer ohne Kontrolle unter Vertrag zu nehmen. Wenn uns das nun auch für den gesamten europäischen Wirtschaftsraum gelingt, wäre das ein entscheidender Erfolg für die Menschenrechte.

Marken, die Shirts aus Asien für drei Euro anbieten, stehen ungeachtet weiter hoch im Kurs bei den Deutschen. Ist es zu einfach, hier Billigkleidung zu kaufen? Empathie kann man niemandem auferlegen. Ich hoffe, dass ein Bewusstsein jüngerer Generationen sich durchsetzt, dass man sich nicht von Modefirmen hinters Licht führen lässt. Es geht um Wertschätzung für geleistete Arbeit. Zudem: So wie man über die Reparaturfähigkeit von Technik redet, sollte man auch über die Pflege von Kleidung reden und nicht immer wegwerfen und neu kaufen. Das hat gleichermaßen mit Klima und Wertschätzung zu tun. Fast Fashion ist genauso überflüssig wie Fast Food. Es ist also eine gesellschaftlich-kulturelle Frage, auf die wir Antworten brauchen. Auch wenn es noch Gegenwehr gibt, etwa durch Geschäftsmodelle, nach denen eben Kleidung nicht langfristig getragen werden soll. Unser Schönheitsmodell sollte den ganzen Prozess einschließen. Wenn wir strahlen, dürfen die Arbeiter:innen dort nicht weinen müssen.

Renate Künast (Bündnis90/Die Grünen) ist Bundestagsmitglied und Vorsitzende der Deutsch-Südasiatischen Parlamentariergruppe. Im Februar reiste sie zu politischen Gesprächen nach Bangladesch. Interview: Max Stille


Dieses Interview erschien in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ, Ausgabe 1-2023 "Doch nur das 'Klamottenmädchen'? - Wie Die Welt Bangladeschs Textilarbeiterinnen vergessen hat" zum Thema "10 Jahre Rana Plaza". Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.

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