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Mythos und Wirklichkeit im Textilsektor Schulter an Schulter?

Schulter an Schulter,
webend mit Geschick und
Entschlossenheit /
Stehen wir stolz in dieser Welt,
im Namen Bangladeschs

Der Verband der Bekleidungshersteller und -exporteure von Bangladesch (Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association, BGMEA) vertritt den wichtigsten Exportsektor des weltweit zweitgrößten Exportlandes für konfektionierte Bekleidung. Und mit jenen Liedzeilen präsentierte er zuletzt ruhmreich die Geschäftsentwicklung des Sektors auf der „Made in Bangladesh Week“ 2022. An dem Branchentreffen nahmen mehr als 500 Vertreter internationaler Käufer*innen und Branchenexpert*innen aus 160 Ländern teil.

Jede Bürgerin und jeder Bürger mag es schätzen, wenn durch ein solches Lied die Identität, das Wachstum und die Unabhängigkeit Bangladeschs ausgedrückt werden. Man sieht hier also ein be- wusstes Bemühen, mit dem der Bekleidungssektor vermarktet werden soll – indem seine vielen Möglichkeiten gepriesen und Produkte mit Emotionen wie Liebe und Patriotismus verbunden werden. Solche Texte und Präsentationen als Geschäftsstrategie zu nutzen, zeugt von einem gewissen Reifegrad der BGMEA-Führung.

Ausreichend ernährt?

Aber wie geht es nach fast vier Jahrzehnten den größten „Architektinnen“ dieses groß aufgestiegenen Sektors, den Textilarbeiter*innen? Wie wirkt sich die anhaltende Inflation auf ihr Leben aus? Um wie viel ist ihr Einkommen im Zuge gestiegener Exporterlöse gewachsen? Sind sie in der Lage, sich ausgewogen und ausreichend ernähren zu können?

Diese Fragen wurden auf der „Made in Bangladesh Week“ nicht gestellt. Auf einer Mega- Veranstaltung zur Unternehmensentwicklung wurde die Entwicklung des Lebensstandards der Arbeitnehmer unter den Teppich gekehrt. Wenn etwa eine einzelne ehemalige Textilarbeiterin einen Uni-Abschluss macht und davon träumt, Unternehmerin zu werden, können wir durchaus stolz sein. Aber es gibt Hunderttausende Arbeiter*innen, die ohne Ausbildung bleiben und ohne ausreichend Ernährung oder nur den Gedanken an irgendeine Form von Urlaub leben müssen. Sie sind als „billige“ Arbeitskräfte bekannt. Ist das Leben einer Arbeiterin mit Diplom dasselbe wie das der vier Millionen anderen Arbeiter*innen? Was können sie sich mit einem Gehalt von nur 8000 Taka (zirka 70 Euro) im Monat leisten?

Hat die BGMEA-Führung einen Plan zur Verbesserung des Lebensstandards und der Qualifikation der Arbeiterinnen? Können wir die Entwicklung des Sektors nur anhand der Gewinne der Eigentümer*innen und Käufer*innen, der Steigerung der Exporteinnahmen, der Entwicklung der Fabrikgebäude beurteilen? Wenn die Kaufkraft der Arbeitnehmer nicht parallel mit dem Anstieg der Exporteinnahmen steigt, kann man dann tatsächlich von einer echten Weiterentwicklung des gesamten Sektors sprechen? Es ist eindeutig, dass die Entwicklung dieses Sektors eng mit der Entwicklung seiner Arbeitnehmer verflochten ist. Jede Analyse oder Planung, die die Arbeitnehmer*innen nicht einbezieht, ist unvollständig.

Nach dem Abflauen der Corona- Pandemie kehrten die Arbeitsaufträge nach Bangladesch zurück, und Medien berichteten von einem Comeback der Textilindustrie. Doch der Krieg in der Ukraine, die weltweite Inflation, die Treibstoffkrise, Überschwemmungen und vieles mehr brachten die Textilarbeiter*innen erneut in eine schwierige Lage. Wir haben schon oft erlebt, wie die Unternehmer*innen dieses Sektors solche Stürme überstanden und ein Comeback geschafft haben. Doch die Arbeiter*innen scheint der Wandel zum Positiven kaum zu erreichen. Etwas mehr als zehn Jahre ist es her, dass Hunderte bei dem Brand in der „Tazreen“-Textilfabrik starben, nun jährt sich der Einsturz des „Rana Plaza“- Gebäudes zum zehnten Mal – aber die Schuldigen sind noch immer nicht bestraft worden, und das Arbeitsrecht wurde noch immer nicht ausreichend geändert.

Die Expansion in neue Märkte, das Ziel weiteren massiven Wachstums der Industrie, außerdem die Anerkennung als Land mit den sichersten umweltfreundlichen Fabriken sowie die mit Blick auf die Klimakatastrophe angestrebte nachhaltige Entwicklung – all das zeigt den Fortschritt des Textil-Sektors, nicht seinen Verfall. Jüngsten Daten zufolge haben die Exporterlöse Bangladeschs auf dem Weltmarkt erstmals die Rekordmarke von 5 Milliarden US-Dollar überschritten.

Aber ist dieser Erfolg nicht nur für die Betreiber*innen und die Regierung von Nutzen? Denn der grausame Kampf der Arbeitnehmer*innen während des ganzen Jahres zeigt, dass sie nicht am Erfolg beteiligt waren. Mitte 2022 etwa, als Arbeiter*innen in Mirpur, Gazipur oder Uttara eine Lohnerhöhung forderten, wurden sie nicht nur ignoriert, sondern ihre Demonstrationen wurden angegriffen.

In Bangladesch hergestellte Produkte erreichen jetzt neue Märkte in Japan, Indien, Südkorea und im Nahen Osten, was bemerkenswert ist. Es gab zudem eine Marktexpansion nach Chile, Brasilien, Mexiko, Russland und in afrikanische Länder.

Angesichts der verschiedenen Krisen in der Weltwirtschaft, der Angst vor einer unsicheren Lebensmittelversorgung und der komplizierten politischen Lage im eigenen Land aufgrund der bevorstehenden Wahlen vermitteln diese Statistiken den Eindruck, dass der Sektor stabil ist. Trotz alledem wurde bis heute kein Lohnausschuss angekündigt, obwohl der letzte bereits vor vier Jahren einberufen wurde. Die Eigentümer*innen haben sich nie dazu bereit erklärt, einen Fonds für die Arbeitnehmer*innen einzurichten, der in Notfällen genutzt werden kann, weder während der Pandemie noch in Zeiten nationaler und internationaler Unruhen.

Die im Textilsektor Beschäftigten werden aufgefordert, alle Verluste mitzutragen, aber wenn die Eigentümer*innen mit Gewinnen überschwemmt werden, erhalten die Beschäftigten nicht ihren gerechten Anteil. Gewinne sind persönlich, aber Verluste sind sozial – dieser neoliberale Wirtschaftstrend lässt sich auch im Bekleidungssektor von Bangladesch beobachten.

Ein Blick auf die rasant steigenden Preise von Lebensmitteln wie Reis, Linsen, Mehl, Salz, Öl und Eiern zeigt dagegen die schwierige Situation, in der sich die Arbeiter*innen und die Bevölkerung dieses Landes befinden. Sowohl die Regierung als auch die Eigentümer*innen und Käufer*innen der Textilbranche müssen Maßnahmen ergreifen und politische Strategien und Strukturen schaffen, um die Krise der Arbeitnehmer*innen zu bewältigen. Es muss ein Notfallfonds eingerichtet werden. Es muss ein demokratisches und rechenschaftspflichtiges Umfeld geschaffen werden, das frei von Angst und Unterdrückung ist – in den Fabriken und überall sonst.

Text: Taslima Akhter. Die Autorin ist Präsidentin der Gewerkschaft Bangladesh Garment Sramik Samhati und Fotografin.

Der Text ist zuerst in der Zeitung „The Daily Star“ erschienen. Zudem veröffentlicht in der Bangladesch-Zeitschrift NETZ, Ausgabe 1-2023 "Doch nur das 'Klamottenmädchen'? - Wie Die Welt Bangladeschs Textilarbeiterinnen vergessen hat" zum Thema "10 Jahre Rana Plaza". Die Zeitschrift können Sie als PDF downloaden oder als Drucksache bei uns anfordern.

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