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Über Machtstrukturen eines globalen Produktionssystems Im stinkenden Rauch der Maschinen

Der Einsturz des „Rana Plaza“-Gebäudes und häufig auftretende Fabrikbrände haben zu einem Umdenken geführt, was die Sicherheit in der bangladeschischen Bekleidungsindustrie angeht. Der Ruf nach der Verantwortung multinationaler Unternehmen, von Fabrikbesitzer*innen und nationalen Regierungen ist lauter geworden, was einerseits zu einem nationalen Aktionsplan und Änderungen des Arbeitsrechts in Bangladesch und andererseits zu beispiellosen internationalen Initiativen geführt hat – angeführt von Akteur*innen aus dem globalen Norden.

Die beiden wohl am meisten beachteten sind die Vereinbarung über Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch (Accord) und die Allianz für die Sicherheit der Arbeitnehmer*innen in Bangladesch (Alliance), beide 2013 ins Leben gerufen. Sowohl Accord als auch Alliance sind Fabrikinspektionsprogramme. Sie bewerten die Sicherheit von Gebäuden, in denen Kleidungsstücke hergestellt werden. Beide wurden von externen Akteur*innen entwickelt: Bekleidungsmarkenfirmen mit Sitz in Europa und Nordamerika, globale Gewerkschaften, transnationale Nichtregierungsorganisationen und die Internationale Arbeitsorganisation ILO – jedoch ohne nennenswerte Beteiligung von in Bangladesch ansässigen Institutionen wie der Handelsvereinigung Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association (BGMEA), Gewerkschaftsverbänden und lokalen Arbeitsaktivistengruppen.

 Mit dem Fokus auf bauliche Verbesserung von Fabrikgebäuden und Brandschutz haben die Initiativen also zwar auf Krisenereignisse reagiert, lassen aber ein breiteres Verständnis für die täglichen, allgegenwärtigen Gesundheits- und Sicherheitsherausforderungen vermissen, die in den Fabriken vorkommen. Solche Gesundheits- und Sicherheitsbelange sind auf politischer Ebene ausgeklammert und entpolitisiert worden – denn in der auf Outsourcing basierenden globalen Handelsdynamik mit höchst ungleichen Macht- und Einflussverhältnissen bleiben sie außen vor.

Von extern entwickelt

Derart technokratische Ansätze entpolitisieren nicht nur das eigentlich „politische“ Thema Arbeit, sie führen auch zu Lösungen, die – im Falle Bangladeschs – von oben aufgezwungen werden. Bei den Initiativen nach „Rana Plaza“ fehlt die direkte Einbeziehung der Textilarbeiter*innen. Lokale Akteur*innen hatten kaum eine andere Wahl, als die festgelegten Bedingungen zu akzeptieren. Sowohl Accord als auch Alliance wurden im globalen Norden entwickelt und im Geiste der „Entwicklungshilfe“ in Bangladesch umgesetzt, was hierarchische Beziehungen von „Geber*innen“ und „Empfänger*innen“ widerspiegelt. Die Risiken und Gefahren der Industrie wurden als ein Bangladesch-spezifisches Problem dargestellt. Doch eine solche Sicht verschleiert die Tatsache, dass die Fabriken in Bangladesch Teil einer globalen Wertschöpfungskette sind, die die Arbeitsabläufe in den Betrieben von Bekleidungsunternehmen auf der ganzen Welt prägt.

 Als das achtstöckige „Rana Plaza“-Gebäude im April 2013 einstürzte, fand das Ereignis große Beachtung in den Medien und löste bei Verbraucher*innen weltweit einen Schock aus. Dabei war es nicht nur ein mangelhaftes Gebäude, das 1138 Arbeiter*innen und einen Retter das Leben kostete, mehr als 2500 Arbeiter*innen verletzte und dazu führte, dass 150 Menschen bis dato vermisst werden. Zwar wurde Mohammad Sohel Rana, Eigentümer von „Rana Plaza“ und Politiker, zusammen mit den Eigentümern fünf anderer Bekleidungsfabriken, die in dem Gebäude untergebracht waren, schnell für den Vorfall verantwortlich gemacht. Nicht vergessen werden darf aber: Alle Konfektionsbetriebe in „Rana Plaza“ waren exportorientiert und hatten Lieferfristen für die ausländischen Käuferfirmen einzuhalten, bei Nichteinhaltung drohten finanzielle Verluste und Strafen. Nachdem die Fabrikbesitzer bereits einen Arbeitstag verloren hatten, da am Vortag Risse im Gebäude entdeckt und die Arbeit unterbrochen worden war, wollten sie die Produktion unbedingt rasch wieder aufnehmen. Die Arbeiter*innen wurden unter Androhung von Gehaltseinbußen zur Arbeit gezwungen. Dann, um 8.45 Uhr morgens, fiel der Strom aus, woraufhin die Dieselgeneratoren eingeschaltet wurden, die innerhalb weniger Minuten zum Einsturz des Gebäudekomplexes führten.

Die symbolische Kraft des Einsturzes, die sich auch in der immensen Medienaufmerksamkeit widerspiegelte, hat zweifellos die Reaktion der internationalen Gemeinschaft, also auch Accord und Alliance, bestärkt. Die Initiativen stellen dabei das Bild des „gescheiterten“ Gebäudes in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie befassen sich nicht mit der Komplexität von Arbeitnehmerrechten und der Gesundheit der Arbeitnehmer*innen. Zwar ist die Rechtsverbindlichkeit der beiden Abkommen nach dem „Rana Plaza“-Einsturz eine wichtige, kaum gekannte Neuerung: Die damals 5600 beim BGMEA registrierten Fabriken mit mehr als 4,4 Millionen Beschäftigten wurden durch Accord (1600) oder Alliance (652) überwacht. Von den übrigen 3348 Fabriken wurde weniger als die Hälfte durch den sogenannten Nationalen Aktionsplan kontrolliert, zahlreiche Zuliefer-Fabriken fielen aus dem Raster.

Im Rahmen einer ethnografischen Forschung zwischen 2010 und 2012 war ich sechs Monate lang als Arbeiter bei Asha Garments angestellt, einer mittelgroßen Strickwarenfabrik, die hauptsächlich T-Shirts, Oberteile, Nachtwäsche und Jacken herstellt. Dort waren zahlreiche Praktiken und Umstände zu beobachten, die Gesundheit und Wohlbefinden der Arbeiter*innen ernsthaft beeinträchtigten.

Die Arbeitskräfte sind überwiegend weiblich und werden garments-er meye (in etwa: „Klamottenmädchen“) genannt. Frauen sind vor allem als Maschinenbedienerinnen und Helferinnen an den Fließbändern beschäftigt, während die Vorgesetzten und Manager überwiegend männlich sind.

Druck und Angst

Mit den derzeitigen Fabriklöhnen ist es nicht möglich, ein auskömmliches Leben in einem städtischen Umfeld zu führen. 2013 wurde der Mindestlohn auf 5300 Taka (knapp 50 Euro) pro Monat erhöht (Anm. d. Red.: eine weitere Erhöhung erfolgte Ende 2018 auf 70 Euro). Lohnerhöhungen folgten bis dahin nur nach massiven Arbeiter*innenprotesten, wobei der geforderte existenzsichernde Lohn verweigert wurde. Die Löhne sind jedoch weder ein direkter Verhandlungsgegenstand mit den internationalen Bekleidungsmarken noch Teil von Accord und Alliance. Sie werden als interne Angelegenheit der Fabrikbesitzer *innen und der Regierung Bangladeschs betrachtet.

In der Näherei gibt es viele Gesundheitsrisiken: eingeatmeter Stoffstaub, stinkender Rauch von den Maschinen zum Schneiden der Pflege- und Größenetiketten, von elektrischen Nähmaschinen erzeugte Hitze, die Verwendung von Klebeetiketten, fehlende Belüftung und der Dauerbetrieb heller Leuchtstoffröhren. Das ständige Einatmen von Stoffstaub verursacht nach Aussage der Arbeiter*innen Kopfschmerzen, Nasennebenhöhlenentzündungen, juckende Haut, gereizte Augen, Magenprobleme und sogar Tuberkulose. Das Einatmen von Sprays mit Reinigungschemikalien, der Staub von Papierkartons, der Geruch von Polyethylenbeuteln und heißer Dampf vom Bügeln belasten die Beschäftigten in der Endfertigung dauerhaft. Hinzu kommt die Monotonie der Arbeit an einer einzigen Maschine, die zu chronischen Kopf-, Nacken-, Rücken- und Gelenkschmerzen führen kann.

Wenn die Arbeit nach Einbruch der Dunkelheit endet, sind die Straßen der Stadt für Frauen nicht sicher, und die Arbeiterinnen kehren mit der Angst vor sexueller Belästigung nach Hause zurück. Das kann etwa Folge von unvorhersehbaren und erzwungenen Überstunden sein, die darüber hinaus Ängste bei der Belegschaft schüren und für Frauen neben dem Heimweg auch im Hinblick auf ihre häuslichen Pflichten eine Herausforderung darstellen.

Druck (chaap) und Angst (bhoy) sind zwei Begriffe, die in den Betrieben immer wieder auftauchen. Sie verdeutlichen, auf welche Art Beschäftigte beim Arbeitsprozess gegängelt werden. Die Unternehmensleitung setzt verschiedene Angstmechanismen ein, von Gehaltskürzungen über die Nichtbezahlung von Überstunden als Strafe bis hin zu sexueller und anderer Belästigung. Die größte Schikane ist der Verlust des Arbeitsplatzes ohne Vorwarnung.

 Dieses angsterfüllte Produktionsregime wird von verschiedenen Arten des Drucks begleitet. Etwa: Das tägliche Produktionsziel wird höher angesetzt, als es realistischerweise zu erreichen ist. Durch wiederum geschürte Angstgefühle wird der Druck auf Arbeiter*innen erhöht, die Arbeit dennoch zu erledigen. Zeitdruck zieht sich dabei durch den gesamten Produktionsprozess. So entsteht ein Kreislauf: Drucksituationen werden durch Angstgefühle bedient, weiterer Druck entsteht, wieder neue Ängste entstehen ... Der körperliche Zustand und die Psyche der Arbeiter*innen sind dabei eng miteinander verbunden. Angst wirkt sich körperlich aus, es kommt zu Atemproblemen, Schlaflosigkeit und Panikgefühlen.

Gewissen beruhigen?

Das transnationale System der Bekleidungsproduktion und des Bekleidungshandels wird sich nicht ändern, wenn man dessen Probleme auf die Grenzen eines einzelnen Nationalstaats beschränkt oder sich nur auf einsturzgefährdete Fabrikgebäude konzentriert. Ein wie anfangs beschriebener technokratischer Top-Down-Ansatz zur Verbesserung der Infrastruktur mag vielleicht dazu dienen, das Gewissen der westlichen Verbraucher*innen zu beruhigen. Aber er reicht nicht aus, um die vielfältigen Gefahren für die Gesundheit der Arbeiter*innen in den Betrieben zu stoppen.

Das gesamte System der Auftragsvergabe und der Aushandlung von Beschaffungsvereinbarungen muss überdacht werden. Und dabei müssen die Bedürfnisse zweier Gruppen berücksichtigt werden, die bisher vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen waren: die lokalen Fabrikbesitzer*innen und die Arbeiter*innen selbst. Ohne die Einrichtung formeller und stärkerer Verhandlungsplattformen unter Einschluss von Gewerkschaften auf Fabrik- und Branchenebene, wird das noch ein langer Weg.

Neben anderen Initiativen, die das Wohlergehen der Arbeitnehmer betreffen, wurde 2022 ein deutsch-bangladeschisches Pilotprojekt zu einer Unfallversicherung gestartet. Solche multi- und bilateralen Initiativen sind Antworten, die aber doch nicht ausreichen – weil in der Lieferkette dieser riesigen globalen Industrie eine Machtasymmetrie besteht, wie wir während der Corona-Pandemie wieder erlebt haben: Millionen von Bekleidungsarbeiter*innen verloren über Nacht ihren Arbeitsplatz und bekamen nicht die ihnen gesetzlich zustehenden Zahlungen und Entschädigungen – da die Modefirmen ihre Aufträge zurückzogen, zurückhielten oder stornierten. Dieses räuberische Produktionssystem, also die Zahlung geringerer Produktionskosten bei verkürzten Lieferfristen, untergräbt weiterhin die Gesundheit und die Rechte der Arbeitnehmer*innen. Und dagegen muss etwas unternommen werden.

Text: Hasan Ahraf. Der Autor ist Professor für Ethnologie an der Jahangirnagar Universität in Dhaka.

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