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Revolution auf dem Friedhof

Eine Kurzgeschichte von Lucky Akter

Ich weiß nicht, was neuerdings mit mir los ist. Ich kann nicht einschlafen. Ich gebe mir alle Mühe, aber der Schlaf will und will nicht kommen. Für mich ist jede Nacht Neumond. Heute jedoch ist Vollmond. Und auch heute kann ich wieder kein Auge zu tun. Immer, wenn die Nacht weiter vorrückt, wird mir danach, auf die Jagd zu gehen. Ich habe gehört, dass unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren in den Vollmondnächten zu jagen pflegten. Ihr Einfluss muss wohl in meinen Genen sein. Ich verliere fast den Verstand. Neuerdings gehe ich nachts aus dem Haus. Heute ist es kalt, mich fröstelt. Ich beschließe, die Nacht draußen in der Natur zu verbringen. Also verlasse ich das Haus. Kaum draußen, höre ich schon das Rauschen des Flusses. Bis an den Uferrand schlagen die Wellen der Pramatta hoch. Ich höre ihr klatschendes Geräusch. Im Vollmondlicht schimmert das Wasser des Flusses noch bläulicher als sonst, noch zauberhafter.

Am Flussufer spielt der Wind. Die Grillen zirpen so wie es schon unsere tausend Jahre alten Schriften beschreiben. In meinem Inneren regt sich Wehmut und schlägt Wellen wie die Wasser der Pramatta. Während ich am Flussufer entlang gehe, fallen mir die Termiten ins Auge, die auch jetzt unermüdlich an ihren Hügeln bauen. Der Fluss säumt den Rand der Stadt. Direkt am Fluss liegt ein kleiner Friedhof. Tagsüber ist das ein sehr stiller Ort. Aber heute, in der Vollmondnacht, haben sich seine toten Bewohner versammelt. Das tun sie regelmäßig. Sie unterhalten sich, erzählen einander allerlei Geschichten und bringen so die Nacht herum. Bei Tageslicht dürfen sie sich, sagt man, nicht zeigen. Heute jedoch scheinen sie ungewöhnlich erregt zu sein.

Ich nähere mich dem Friedhof. Auch da tönt immer noch das Quaken der Frösche vom Flussufer herauf. Von dort her hört man sogar, wie ein paar große Sharpunti-Fische mit ihren Schwänzen schlagen. Ich bleibe stehen. Unter dem alten Banyanbaum des Friedhofs steht ein junger Mann und spielt Flöte. Wie wundervoll sein Spiel klingt! Die großen Kröten des Friedhofs stimmen darin ein. Mit ungeteilter Aufmerksamkeit lauscht ein Uhu dem Klang der Flöte.

Etwas entfernt steht ein Zitronen-Mahagonibaum. Unter ihm versammeln sie die Toten fast jede Nacht, schwatzen und schnappen ein bisschen Luft. Heute geht es unter dem Baum ziemlich laut zu. Die Leuchtkäfer erhellen mir den Weg. Ich gehe näher.

Ich verstehe, dass ein ziemlich erhitzter Disput im Gange ist und versuche, herauszubekommen, worüber sie sich so spät in der Nacht streiten. Noch immer ertönt die Flöte. Inzwischen wird der Streit immer lauter und hitziger. Wohl oder übel unterbricht der Flötenspieler, den sie Sholu Mian nennen, sein Spiel und geht ärgerlich auf den Mahagonibaum zu. Ich folge ihm. Dort hat der Streit an Heftigkeit zugenommen. Einer beschuldigt den anderen. Als sie Sholu kommen sehen, gehen einige der Versammelten auf ihn zu und rufen: „Wo waren Sie denn so lange? Heute müssen wir die Sache zu Ende bringen.“ „Was haben Sie denn nun schon wieder?“ fragt Sholu.

Inzwischen drängt sich eine Frau mittleren Alters namens Taslima durch die Menge nach vorn. „Wir wissen überhaupt nich‘, was wir essen können. Schon lebendig bin ich fast verhungert, aber jetzt geht‘s schon so lange, dass für uns gar nichts mehr zu essen da ist. Kriegen wir denn keine Zuteilung mehr, bloß weil sie gesehen haben, wir sind tot? Als ob wir jetzt keinen Hunger mehr hätten!“ „Was sagen Sie da?“ fragt Sholu. „Haben Sie denn auch jetzt noch Hunger?“ Aus der Menge ruft Salma Khatun erregt: „Ich dachte, hier wär‘ mit allen Problemen Schluss. Aber wie ich seh‘, gibt‘s für uns auch hier keine Versorgung.“ „Gestern Nacht“, wirft Dshamil Sheikh ein, „hatte ich großen Durst. Ich wollte mir von der Palme hier auf‘m Friedhof ‘ne Kokosnuss runterholen. Behauptet doch dieser stinkreiche Shomir Ali, dieses fette Schwein, alle Kokosnüsse auf dem Friedhof wären seine. Im Leben ist er schon in Geld erstickt. Und jetzt, als Toter, spielt er sich immer noch auf? Gehört sich sowas?“

Fatema sagt: “Sholu, warst Du nicht im Leben für Gerechtigkeit? Du sollst doch Demos und sowas angeführt haben? Und jetzt, meinst du, reicht‘s, ein bisschen auf der Flöte rumzublasen? Mach was gegen dieses Unrecht hier!“

Sholu antwortet: „Was bleibt mir anders übrig! Meine letzte Demo im Leben war noch nicht zu Ende. Bei einem Marsch gegen den Hunger war‘s‚ dass ich auf der Straße elend umgekommen bin. Nich‘ mal ‘n Tropfen Wasser hab‘ ich gekriegt… Hast diese alten Geschichten in mir hochgebracht. Wenn Sie denn wollen, können wir ja eine Demo dagegen machen. Also los!“

Einmütig rufen alle Toten des Friedhofs: „Ja, ja, richtig so!“

Fatema Begum ruft: „Heute müssen wir diesen Fettsack Shomir Ali vom Friedhof schmeißen. Der Schlawiner frisst ganz alleine allen hier das Essen weg. Selbst nach dem Tod hat er sich nich‘ gebessert. Nirgends kann ich hier in Frieden sitzen oder mal Luft schnappen gehn.“

Daraufhin setzt sich der Zug mitten in der Nacht auf den schmalen Wegen zwischen den Gräbern in Bewegung. Aus alter Gewohnheit setzt sich Sholu Mian an seine Spitze. Der ganze Friedhof erzittert.

Manchmal rufen einige eine Losung wie „Tote der Welt! Vereinigt euch! Kämpft!“

Die Eulen flattern hin und her; ein paar schreien laut. Mit lautem Quaken bekunden die Frösche am Fluss ihre Unterstützung.

In dem merkwürdigen Dunkel schließe auch ich mich dem Zug an. Nicht einmal meinen Schatten kann ich noch sehen.

Die Stadt kommt in Sicht. Von dort bellen und miauen ein paar Hunde und Katzen aus Solidarität mit uns. Die schlafenden Städter, die das Gebell hören, drehen sich im Schlaf auf die andere Seite. Keiner von ihnen bekommt mit, dass es heute Nacht auf dem Friedhof eine Revolution gegeben hat. Heute, in dieser Vollmondnacht, haben sich die toten Bewohner des Friedhofs erhoben und den Fettwanst Shomir Sheikh mit Fußtritten aus dem Friedhof hinausbefördert.