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Die Frau des Irren

Eine Kurzgeschichte von Moshahida Sultana Ritu

An Moynas Kinn laufen das Wasser aus Augen und Nase und der Regen zu einem einzigen Rinnsal zusammen. Den zweieinhalbjährigen Jungen an ihre Brust gepresst, sitzt sie an die hintere Wand ihrer Wellblechhütte gelehnt. Das Trommeln des Regens auf dem Blechdach übertönt alle anderen Geräusche. Irgendwo hatte ein Hund zu bellen begonnen, aber auch er ist mit dem einsetzenden Grollen des Donners verstummt. Vom Hof her an ihren Füßen vorbei, hat der Regen ein handbreites Bächlein gebildet, das das vorhandene Gefälle nutzt und draußen in den Kanal vor der Hütte läuft. Wie ein Fluss, der sich mit dem Meer vereint. Moyna spürt, wie der aufgeweichte Schlamm im Nu zwischen ihre Fußzehen quillt.

Nachdem sie neun Jahre ununterbrochen gestillt hat, besitzt Moyna keine andere Bestimmung als die einer erfahrenen Mutter. Jetzt, im Unglück, denkt sie an ihre drei größeren Jungen. Die Frage, ob es einen Schicksalslenker gibt oder nicht, kommt ihr nicht in den Kopf. Der Gestank des Kanals zwei Ellen vorm Haus dringt ihr in die Nase. Sie blickt auf das grüne Reisfeld, das sich auf seiner anderen Seite bis an den Horizont erstreckt. Vom Mangobaum am Kanalufer plumpsen kleine Mangos ins Wasser. Der Junge ist nackt. Sein ganzer Körper ist nass. Moyna wischt sein Gesicht mit dem durchnässten Ende ihres Saris ab. Das macht seinen Kopf keinen Tropfen trockener, im Gegenteil. Der Junge beginnt zu weinen. Schnell hält sie seinen Mund an ihre Brust, der Junge trinkt begierig.

Moyna ist noch ganz benommen davon, wie schnell alles ging. Was ist überhaupt alles passiert? Auf dem Lehmofen in der Küche kochte gerade der Reis. Moyna erfasst immer ein Gefühl der Erleichterung, wenn Reis kocht. Auch heute werden ihre vier Kinder etwas zu essen haben – dieser Gedanke lässt sie dann erleichtert aufatmen. Wer wie sie nicht genug zu essen hat, für den ist der Anblick von kochendem Reis ein beruhigender, fast berauschender Anblick. Moyna genießt diesen Anblick ganz besonders an Tagen, an denen noch am Morgen selbst eine Maus, nicht einmal ein Insekt, satt geworden wäre. Ihre Schwiegermutter hat selbst nicht genug. Seit Ratans gespartes Geld aufgebraucht ist, leben sie mehr schlecht als recht von dem Bisschen, was sie von seinem Onkel erbetteln. Es muss jetzt sechs Monate her sein, dass Ratan zu Hause ist. Der Wahnsinn, der bei ihm in der Familie liegt, hat ihn erfasst. Es heißt, dass alle Männer in Ratans Familie den Verstand verlieren, sobald sie die Vierzig überschreiten. Moyna hatte angenommen, Ratan sei dreißig. Aber wie sich zeigt, muss er älter sein. Warum sollte er sonst so jung schon wahnsinnig werden? Sein Zustand verschlimmert sich von Tag zu Tag.

Gerade als Moyna den Reis auf dem Herd abgoss, kam Ratan und stand in der Tür. Während er sich den Kopf kratzte, sagte er: „Gib mir Reis.“ Moyna sagte: „Gleich ist er fertig, hab noch einen Moment Geduld.“ Sofort stieß er mit dem Fuß die Aluminiumschüssel um, in der sie das Regenwasser sammelten. Während sie sah, wie sich das Wasser in der ganzen Küche ausbreitete, bemerkte sie, das Ratan selbst nass geworden war. Der Reistopf flog aus seiner Hand in eine Ecke. Noch ehe sie begriff, wie der Topf dorthin gekommen war, überlegte sie, wie sie aus der Küche hinauskommen könnte. Ratan stand wie ein Unhold in der Tür. Als sie in seiner schrecklichen Miene den Abdruck des Wahnsinns wahrnahm, füllten sich Moynas Augen mit Angst. Ratan ging vorwärts. Gleich würde er ihr die Kehle zudrücken oder sie schlagen. Als sie Ratan voller Angst in die Augen blickte, merkte sie, dass sein Blick an ihr vorbei ging und irgendetwas hinter ihr suchte. Darauf ging er jetzt langsam zu. Sofort erriet sie, dass es das Hackmesser zum Holzhacken war, das etwas links hinter ihr lag. Als Ratan ein Stück weiter vorwärts ging und sie den Weg zur Tür ein Stückchen frei sah, zögerte Moyna keinen Moment und rannte nach draußen.

So wie eine Gazelle rennt, wenn sie den Jäger sieht. Mit erhobenem Hackmesser rannte Ratan Moyna hinterher. Sobald er sie direkt vor sich sah, zielte er und warf das Messer nach ihr. Er hatte genau gezielt, doch weil Moyna rechtzeitig ausweichen konnte, blieb das Hackmesser im Stamm des Sternfrucht-Baumes auf dem Hof stecken. Als er das sah, verdoppelte sich Ratans Wut. Er zog das Hackmesser heraus und rannte zum Wasserhahn. Dort saß Moynas kleiner Sohn auf der Erde und spielte mit Blättern, die er um sich aufgehäuft hatte. Als sie sah, wie Ratan auf den Jungen zuging, rannte sie los, um ihn wegzureißen. Da ging Ratan wieder auf sie los. Moyna wich wieder zurück. Jetzt rannte Ratan wieder auf den Jungen zu. Er hatte begriffen, dass Moyna ohne den Jungen nicht weglaufen konnte. Sie musste einfach in dessen Nähe bleiben.

Als sie sahen, dass die Lage außer Kontrolle geraten war, rannten Ratans Onkel, seine Cousins und seine Mutter hinter ihm her. Als sich Ratan umdrehte und das Hackmesser erhob, wichen sie zurück. Jetzt war auf der einen Seite Moyna, auf einer anderen Moynas Sohn und auf einer weiteren Ratans Verfolger. Da er nicht drei Seiten gleichzeitig im Auge behalten konnte, gelang es seinen Verwandten, ihn zu überwältigen. Während sie ihn fesselten, schnappte Moyna den Jungen und lief weg. Während sie in ihrer Angst, Ratan könnte sich losreißen, lief und lief, spürte sie, dass es regnet. Der Boden wurde glitschig. Der Schlamm von gestern nahm sofort das frische Wasser auf und wurde klebrig. Moyna rutschte aus, konnte sich aber gerade noch halten.

Während sie rannte, dachte sie an das, was vor Jahren geschehen war. Genau so war sie auf dem Jutefeld zwischen den Halmen vor Ratan weggelaufen, um sich nicht von ihm einholen zu lassen. Da glitt ihr Fuß aus. Damals jedoch war sie nicht von Angst, sondern von der heimlichen Freude sich erfüllender Liebe angetrieben. Als sie ausglitt, hob Ratan sie auf seine Schultern, und danach drückte sein riesiger Leib Moynas schmächtigen Körper unter Liebkosungen in den weichen Boden. In welch wundervollem Glücksgefühl hatte sie sich damals verloren. Und heute war derselbe Ratan gekommen, um sie zu töten. Selbst seinen eigenen Sohn hätte er fast umgebracht. Moyna konnte es einfach nicht fassen.

Als der Regen aufgehört hatte, ging Moyna vorsichtig zu dem Haus. Die Leute redeten darüber, dass Ratan im Haus festgebunden war und jetzt schlief. Heute noch sollte ein Schiedsgericht abgehalten werden, so hieß es. Wenn man Moyna in dieser Lage zurückließe, würde ihr Leben in ständiger Gefahr sein. Das könne nach dem heutigen Geschehen niemand zulassen. Daher müsse noch heute eine Klärung erfolgen.

Als sie mit dem Jungen in den Armen am Haus angelangt war, spähte sie aus dem Fenster, um zu sehen, ob Ratan wirklich schlief. Auf der Veranda saß ihre Schwiegermutter. „Komm nicht hierher!“ rief sie ihr zu. Moyna achtete nicht auf ihre Warnung. Es verlangte sie sehnlich danach, Ratans Gesicht zu sehen. Am Rand des Fensters rankte sich Pui-Shak [Spinat] hoch und behinderte ihre Sicht. Voll Unruhe bog sie eine Ranke beiseite und steckte ihre Nase durch das Fenstergitter, um ins Innere zu schauen. Die eisernen Fensterstäbe, die an ihre Stirn und ihr Kinn drückten, erschienen ihr weich, während ihr der eigene Körper härter als das Eisen vorkam. Härter als Eisen würde sie sein müssen, um zu überleben. Moyna hätte am liebsten ihr Gesicht noch weiter in das Zimmer gesteckt. Ratans Arme waren mit Stricken am Bett festgebunden. Seine behaarte Brust hob und senkte sich. Wie ein Stück grüne Walderde, die nach dem Regen schwillt und atmet. Moyna möchte am liebsten ihren Kopf an seine Brust legen. Da spürt sie eine Hand auf ihrem Kopf. Wessen Hand? Sie dreht sich um. Es ist Ratans Mutter.

Genauso hatte Ratans Mutter zu Ratans Vater geblickt. Das lag nicht sehr lange zurück. Vor acht Jahren war Ratans Vater gestorben. Nachdem er wahnsinnig geworden war, hatte er noch zehn Jahre gelebt. Während dieser Jahre hatte man ihn manchmal mit Ketten gefesselt, manchmal in das verschlossene Haus eingesperrt. Zehn Jahre hatte Ratans Mutter auf Ratan geblickt und gehofft, dass durch ihn eines Tages alle Schwierigkeiten ein Ende nehmen würden.

Aber nach acht Jahren war Ratan wahnsinnig geworden. Als sie sah, wie Moyna konzentriert auf sein Gesicht schaute, schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie nahm sich zusammen und sagte zu Moyna: „Geh zu Deinen Eltern, Tochter, du musst doch die Kinder am Leben erhalten.“ Moyna erwiderte nichts. Ihr Blick war leer. Am Abend wurden die Ältesten des Viertels zu einem Schiedsgericht zusammengerufen. Dort wurde beschlossen, dass Moyna zu ihren Eltern gehen und solange bei ihnen bleiben solle, solange sich Ratans Zustand nicht bessern würde. Am nächsten Morgen ging Moyna mit ihren vier Söhnen zu ihren Eltern. Die Familie ihres Vaters war arm. Ihr Vater und ihre Mutter sammelten Altpapier von der Straße, banden es zu Bündeln und verkauften diese auf dem Markt. So kamen sie über die Runden. In ihrer Wellblechhütte gab es nur zwei Räume. Daneben gab es zwei Mangobäume, einen Jackfruchtbaum, drei Papayas und ein paar Bananenstauden. Wenn es regnete, rann das Wasser unablässig durch die Löcher des Blechdachs. Während der Regenzeit musste das Dach mit Plastikplanen abgedeckt werden. Aber auch die hielten nicht alles ab. Moyna wusste, dass ihre Kinder hier Hunger leiden würden. Sobald sie zu Hause ankam, kauften sie von dem Geld, das ihr ihre Schwiegermutter zugesteckt hatte, zuerst zwei Hähne und vier Hennen. Wenn die Hennen Eier legten, dann hätten die Jungen wenigsten etwas zu essen.

Bis Moyna sich entschloss, was sie bei ihren Eltern tun könne und was nicht, verging zunächst einige Zeit. Vor ihrer Heirat hatte sie gelernt, Papiertüten herzustellen. Sie beschloss, mit der Tütenfertigung zu beginnen. Der älteste Sohn sollte ebenfalls Tüten kleben. Aber diese Arbeit war nicht so einfach wie sie es sich vorgestellt hatte. Wenn man das Papier dazu nicht von den Leuten zu Hause oder aus den Büros sammeln konnte, musste man es von Papierhändlern kaufen. Diese verkauften nur gegen Bargeld. Und wenn sie es doch auf Kredit verkauften, dann machten sie das Papier so teuer, dass der Verkauf der fertigen Tüten kaum Gewinn einbrachte.

Eines Tages riet ihr ein Tütenkäufer, bei einer Nichtregierungsorganisation einen Kredit aufzunehmen. Die geliehene Summe war nicht sehr hoch. Für den Anfang könnte sie mit zwei bis 3000 Taka zu arbeiten beginnen. Wenn sie diese Summe zurückzahlen konnte, würde man ihr das nächste Mal bis zu zehntausend Taka leihen. Nach reiflicher Überlegung beschloss Moyna, diesen Weg zu gehen.

Bis sie die Tüten verkaufen konnte, musste ja das Geld für das Essen und die Kleidung der vier Jungen aufgebracht werden. Schließlich handelte es sich nicht um einen, sondern um vier. Wie sollte sie sie ernähren? Als man ihr ihre Verpflichtungen vorgelesen hatte, unterschrieb sie mit zitternder Hand und nahm 3000 Taka in Empfang. Davon kaufte sie für 1500 Taka Papier und für 1150 Taka Reis, Linsen, Zwiebeln, Knoblauch und Öl. Nun besaß sie noch 350 Taka. In der Hoffnung, diese als Notgroschen zu behalten, verbarg sie das Geld vorsichtig in ihrer Bluse, ehe sie das Haus betrat. Als sie sahen, dass ihre Mutter eingekauft hatte, liefen die Jungen fröhlich auf dem Hof des Hauses herum. Der Älteste war neun, die Mittleren sieben und fünf und der Jüngste zweieinhalb.

Nachdem sie eine Woche lang ununterbrochen Tüten angefertigt und verkauft hatte, verdiente sie 1650 Taka. Von dieser Summe behielt sie 200 Taka zurück und kaufte davon Papier. Moyna rechnete sich aus, dass sie noch mehr verdienen könnte, wenn sie diesmal besseres Papier kaufte. Wenn sie die Arbeit statt in einer ganzen Woche in vier oder fünf Tagen schaffen könnte, stiege ihr Gewinn weiter. Dementsprechend machte sie sich an die Arbeit. Inzwischen kamen Vertreter der Nichtregierungsorganisation, um zu sehen, ob Moyna die Anleihe richtig anlege. Voll Elan berichtete Moyna ihnen, wie sie 150 Taka Gewinn erwirtschaftet hatte.

Die Organisation erinnerte sie daran, dass sie ab dem kommenden Monat eine Summe als Zinsen einzahlen müsse. Aber in der dritten Woche bekamen der älteste und der jüngste Sohn gleichzeitig Fieber. Zwar lag der älteste ruhig da, aber der Kleine weinte ununterbrochen. Also konnte Moyna ihre Arbeit mit den Tüten nicht beenden. Und sie musste notgedrungen 350 Taka für Material ausgeben. Die Hühner legten wie erwartet Eier, aber weil sie kein Futter für sie kaufen konnte, musste sie einen Hahn und drei Hennen schlachten. Das letzte Huhn legte zwar ein Ei, aber für Moyna war es schwer zu entscheiden, welchem der Jungen sie dieses eine zu essen geben sollte. Also blieb ihr nur, entweder auch hoch das letzte Huhn zu schlachten oder es brüten zu lassen. Dafür entschied sie sich schließlich. Als Moyna die Küken sah, freute sie sich wie nie zuvor.

Inzwischen war der Monat herum und die Leute der Organisation standen vor der Tür und verlangten die Ratenzahlung. Als Moyna den Nachbarn von ihrem Unglück erzählte, rieten ihr diese, einen weiteren Kredit bei einer anderen Organisation aufzunehmen. Von dieser lieh sich Moyna weitere dreitausend Taka. Von dem, was ihr Vater und ihre Mutter verdienten, gaben sie ihr sowieso einen Teil ab. Auch deren Ersparnisse mussten notgedrungen herangezogen werden. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, denn schließlich waren im Haus sieben Mäuler zu stopfen.

Kaum hatten die Jungen sich von ihrem Fieber erholt, regnete es einen Tag. Ein Regen außerhalb der Regenzeit. Damit hatte Moyna nicht gerechnet. Das Wasser, das durch das löchrige Dach hereintropfte, machte 500 Tüten unbrauchbar. Als sie sie auf dem Hof zu trocknen versuchte, setzte der Regen erneut ein. Ein Teil der Tüten war nicht zu retten. Ratlos ließ sich Moyna in der Veranda niederfallen. Ihr Kopf war leer. Wie sollte es weitergehen?

Nachdem sie sechs Monate lang alle Schwierigkeiten irgendwie überstanden hatte, begriff sie, dass sie diesmal die Rate nicht würde bezahlen können. So nahm sie eine weitere Anleihe auf. Inzwischen kam von Zuhause Ratans Onkel, um sich nach ihr und den Kindern zu erkundigen. Voller Unruhe hoffte sie darauf zu hören, dass es mit ihrem Mann wieder bergauf gehe. Stattdessen berichtete ihr der Onkel, dass Ratan abgemagert war. Moyna setzte dem Onkel Essen vor. Während er aß, erzählte er weiter, dass Ratan eines Tages ihre Schwiegermutter angegriffen hatte. Deswegen hatte man ihn im Zimmer festgebunden. Inzwischen wagte es niemand mehr, ihn gefesselt aufs Klo zu bringen, sodass er sein Bedürfnis im Zimmer verrichtete. Manchmal musste er mit Medikamenten eingeschläfert werden, damit seine Mutter den Urin und die Exkremente beseitigen und ihn säubern konnte. Moyna brach in lautes Weinen aus.

Ratans Onkel steckte ihr beim Weggehen 500 Taka zu. Von diesen 500 Taka kaufte Moyna wieder etwas Tütenmaterial. Weil ihr jemand in diesen Notzeiten Geld gegeben hatte, erinnerte sie sich zum ersten Mal an Allah und dankte ihm.

Ohne dass sie ihren Kredit bei einer Organisation abgelöst hatte, war sie gezwungen, bei einer weiteren eine Anleihe aufzunehmen. Auf diese Weise nahm sie innerhalb eines Jahres vier Kredite auf. Wenn sie diese nicht zurückzahlen konnte, würde ihr niemand mehr Geld leihen. Aus Angst davor zahlte sie mit dem neuen Kredit ihre Schulden bei der ersten Organisation ab und nahm erneut eine Anleihe von 10 000 Taka auf. Ihr war nicht klar, dass sie höhere Raten zu zahlen haben würde, je mehr Geld sie sich lieh.

Da ihr nach der Tilgung ihrer Schulden kein Geld mehr geblieben war, kaufte sie ihr Material auf Borg. Als ihre Schulden bei dem Händler angewachsen waren, weigerte er sich, ihr weiter zu borgen. Auch die anderen Händler erfuhren davon, und niemand wollte ihr mehr auf Borg verkaufen.

Eines Tages, als sie Chilis zerkleinerte, brannten ihre Hände heftig und als sie sie anschaute, sah sie, dass die Haut zwischen den Fingen völlig wund war. Das kam daher, dass der Leim für das Tütenkleben 24 Stunden am Tag an ihren Händen haftete. Sie besorgte sich vom Dorfarzt eine Salbe, aber die Finger heilten nicht. Als sie erneut zum Arzt ging, riet ihr dieser, sie müsse aufhören, Tüten zu kleben. Er wusste ja nicht, dass ihre Kinder verhungern müssten, wenn sie damit aufhörte. Eines Nachts träumte Moyna, dass ihr Mann sie zu sich rief. „Komm her“, sagte Ratan, „ich möchte dich liebkosen.“ Nach dem Aufstehen weinte Moyna. „Es reicht“, sagte sie sich, „eineinhalb Jahre sind herum.“ Sie würde zu ihrem Mann zurückkehren. Mochte er wahnsinnig sein oder nicht, sie würde wieder zu ihren Schwiegereltern gehen.

Eines Morgens weckte sie ihre Kinder zeitig aus dem Schlaf und brach mit ihnen auf. Sie hatte niemanden in der Nachbarschaft Bescheid gesagt. Beim Weggehen trug sie ihrer Mutter auf, wenn jemand von der Organisation käme, zu sagen, sie sei ihren Onkel besuchen gegangen und werde nach einer Woche zurückkommen. Als sie aus dem Haus ging, sah sie, dass am Zitronenbaum einige Zitronen gereift waren. Sie band sieben davon in ihr Bündel ein. Es tröstete sie, dass sie ihren Schwiegereltern, wenigstens eine Kleinigkeit mitbringen konnte. Zunächst freute sich Ratans Onkel, als er Moyna sah. Gleichzeitig gab er ihr auf vielfältige Weise zu verstehen, dass er nicht in der Lage sei, die Verantwortung für Essen und Kleidung für weitere fünf Personen zu übernehmen. Ratans Tante war wütend und sagte, sie werde zu ihrem Bruder gehen, sodass Moyna und ihre Schwiegermutter die Küchenarbeit zu übernehmen hätten. Als die Rede aufs Einkaufen kam, sagte der Onkel, er habe kein Geld. Da sagte Ratans Mutter zu ihr: „Tochter, geh zurück zu deinen Eltern. Hier kannst du nicht bleiben. Es ist besser, du heiratest wieder. Ratan lebt nicht mehr lange. Siehst du nicht, wie dünn er geworden ist?“

Am nächsten Tag tauchte ein Mann aus Moynas Dorf aus. Moyna erkannte, dass es der Mitarbeiter war, der die Raten für die Organisation eintrieb. Moyna bat ihn, sich zu setzen und gab ihm Obstsaft zu trinken. Er sagte lächelnd, er sei gekommen, um sich nach Moyna zu erkundigen. Er sah sich genauestens im ganzen Haus um und rechnete dann Moyna ihre Ratenforderung vor. Er habe, hielt er ihr vor, herausgefunden, dass sie nicht nur bei seiner, sondern bei einer weiteren Organisation Schulden gemacht habe. Insgesamt habe sie 30 000 Taka Schulden. Moyna versicherte ihm, sie werde alles begleichen. Sie sei gekommen, um nach ihrem kranken Mann zu sehen. Als der Mann Ratan sah, heuchelte er Bedauern.

Als er hinausging, atmete Moyna erleichtert auf in dem Glauben, er werde jetzt gehen. Moyna und ihre Schwiegermutter geleiteten ihn hinaus. Aber er verschwand nicht, sondern ging zu den Nachbarn und rechnete ihnen Moynas Schulden vor. Zudem behauptete er, Moyna sei heimlich weggelaufen. Nach vielem Suchen habe er sie hier gefunden. War das etwa recht von ihr gewesen? An den Gesichtern der Leute las Moyna Mitleid mit dem Mann und Anklage gegen sie. Moyna fühlte sich in den Schmutz gezogen. Immer wieder sagte sie dem Mitarbeiter: „Es stimmt, Sie bekommen Geld von mir und ich werde es Ihnen geben. Warum erzählen Sie das allen Leuten herum? Gehen Sie! Ich werde es in ein paar Tagen begleichen.“

Aber der Mann ging nicht. Er ging in den Teeladen des Dorfes und erzählte seine Geschichte immer weiter. Schließlich wurde Moyna wütend und drohte ihm.

Darauf schien der Mann nur gewartet zu haben. Auf Moynas Drohung geriet er seinerseits in Zorn und sagte leise in drohendem Tonfall: „Haben Sie sich etwa gedacht, Sie hauen ab und ich find‘ Sie nicht? Wenn ich das Geld nicht innerhalb von zwei Tagen kriege, lasse ich die Mangobäume an Ihrem Elternhaus fällen. Wenn Sie die Achtung und Ehre Ihrer Schwiegereltern erhalten wollen, dann kümmern Sie sich um das Geld. Auch hier gibt es eine Organisation. Wenn nötig, können Sie das Geld von hier leihen und mir geben.“

Moyna hörte ihn schweigend an. Weil sie ihr Gesicht mit dem Sari-Ende bedeckt hielt, sah niemand, wie ihr die Tränen über das Gesicht rollten. Ratans Mutter murmelte: „Lieber tot sein, als das erleben müssen.“ Es war nicht klar, ob sie das zu Moyna oder zu sich selbst sagte. Das zu wissen hätte auch keinem genützt, denn sie empfanden es ja beide. Ob sie es murmelten oder herausschrien. Beide waren der Überzeugung, dass wer in seinem Leben Würde besitzt, dessen Selbstachtung verletzt wird, wenn er Geld geborgt hat und es nicht zurückzahlen kann, und dass ihn die Last dieser Schuld quält, ganz gleich, ob es sich um Millionen oder gerade einmal tausend Taka handelt. Dazu kam das Gefühl der Demütigung. Sie waren ja nicht mit der Elefantenhaut der Superreichen in den großen Städten geboren, die gewohnt sind, ihre Schulden nicht zu bezahlen. Deswegen fühlten sich Moyna und ihre Schwiegermutter in den Schmutz getreten. Auch wenn sie es nicht offen zeigten, sondern hinter ihrem Sari-Ende verbargen.

Die Nachricht, dass der Mann gekommen war, hatte sich im Nu im ganzen Dorf verbreitet. Nachdem die Neugier, den Verrückten anzusehen, mit der Zeit ziemlich abgeebbt war, stürzten sich die Dorfbewohner jetzt zu Ratans Haus, um sich das neue Spektakel anzusehen. Sie blickten immer wieder zu Moyna hin und tuschelten. Geliehenes Geld zu unterschlagen war ein ganz schweres Verbrechen. Unter dem Vorwand, ihr Mann sei irre, hatte Moyna einen Kredit aufgenommen und das Geld einfach für sich verbraucht. Manche redeten auf Moynas Schwiegermutter ein: „Hast dir ein armes Mädchen ins Haus geholt, keine Mitgift verlangt und jetzt schafft sich die Schwiegertochter Goldschmuck an. Zeig mal, was für Schmuck sie gekauft hat.“ Moynas Schwiegermutter achtete nicht auf ihr Geschwätz. Den ganzen Tag murmelte sie vor sich hin: „Warum bin ich nicht tot, warum…?“

Es war die siebte Nacht des Mondzyklus. Die Jungen waren hungrig eingeschlafen. Im Zimmer, neben dem Ratan eingesperrt war, lagen sie ruhig aneinandergedrängt. In einer anderen Ecke lag Moyna mit ihrem Jüngsten. Moyna konnte nicht einschlafen. Ihr war danach, irgendetwas zu tun, aber was wusste sie auch nicht. Wollte sie weglaufen? Nein, das war es nicht. Was dann?

Moyna geht zum Fenster zu Ratans Zimmer. Sie blickt auf die Kette, mit der seine Beine ans Bett angebunden sind. Moyna hat den Schlüssel dazu in der Hand. Beim Anblick von Ratans Fesseln fällt ihr ein, dass sie als Kind eine Moyna [Hirtenstar, der Vogel wird wegen seiner Begabung zum Sprechen öfter in Häusern gehalten] besessen hatte. Der Vogel war mit einem Bein an einen Bambuspfosten gefesselt. Wenn man vorbeiging, rief er unablässig „Moyna, Moyna“. Eines Tages war es Moyna erschienen, als ob das hieße: „Moyna, Moyna, lass mich frei“. Daraufhin hatte sie den Vogel wirklich fliegen lassen.

Moyna scheint, Ratans schlafender Mund sagt ebenfalls: „‚Moyna, Moyna, lass mich frei.“ Moyna denkt an die Worte ihrer Schwiegermutter: „Lieber tot sein als das erleben müssen.“ Moyna öffnet die Tür und schließt sorgfältig das Schloss um Ratans Kette auf. Sie erzählt dem schlafenden Ratan alles Vorgefallene. Ihre angestaute bittere Erfahrung löst sich nach und nach in Weinen auf. Dann legt sie ihren Kopf an seine Füße und schließt die Augen. Ermüdet von ihrem Weinen schläft sie ein. Sie bildet sich ein, dass Ratan sie, sobald er erwacht, an seine Brust ziehen und sie liebkosen wird. Er würde ihren von den letzten anderthalb, zwei Jahren ausgelaugten Körper aufheben und ihn berühren. Ihre ganze Müdigkeit, Qual und Erschöpfung würden geheilt werden. Zwei Tage später ging durch die Zeitungen die Meldung: „Mann erschlägt Ehefrau und drei Kinder“. Die ganze Schuldenlast fiel nun auf die Schultern von Moynas kleinem Sohn. Da er in einer entfernten Ecke des Zimmers geschlafen hatte, war er Ratans Augen entgangen.

Aus der Stadt kam ein mitleidiger Mann und adoptierte Moynas kleinen Sohn. Er war als selbstloser und hochherziger Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation bekannt. Seit langem hatte er sich der Aufgabe gewidmet, die Armut im Land durch Mikrokredite zu beseitigen. In seine persönliche Akte heftete er sorgfältig alle Zeitungsausschnitte über den brutalen Mord. Nie hat er sich gefragt, ob Ratans Geschlecht wirklich ein Geschlecht von Irren sei. Ebenso wie sich nie jemand, auch nicht fälschlich, gefragt hat, ob Moyna die Kette an Ratans Beinen aufschloss, weil sie von ihrer Schuldenlast erdrückt wurde.

Würde das je jemanden interessieren, wenn er auf dem Weg in die Stadt einem halbnackten Irren Mitte vierzig begegnet?