Startseite
Jetzt spenden

Der Wind verbreitet Süße

Eine Kurzgeschichte von Shagufta Sharmeen Tania

Mein Rufname ist Shubhom. Mein richtiger Name ist Adrit Wakil Islam. Oder Wakil Islam Adrit. Seit heute früh, 10.35 Uhr, sitze ich am Flussbett der alten Tista. An meinen Ohren vorbei rauscht der unbändige Wasserstrom, der die Hindernisse der Berge bezwungen hat. Dass das Wasser auf meinen Kopf einen Druck ausübt, ist doch natürlich, nicht wahr? Kann sein, dass das der Druck des Wassers ist oder aber der Druck des immer dichter werdenden Dunkels der Bäume, die das untere Flussbett säumen, oder auch der Überschwang der Gedanken in meinem Kopf. Was bis eben flatternd auf meiner Schulter vorbeigetrieben ist und das ich für eine riesige Plastiktüte gehalten habe, stellt sich jetzt bei näherem Hinschauen als Lubnas weißes Maxikleid heraus. Lubna, die Tochter meines Onkels Akul, ist in den Fluss gesprungen und ertrunken. Jetzt treibt sie auf ihm dahin.

Sobald ich jetzt zu erzählen anfange, drängen sich so viele Dinge nach vorn. Zum Beispiel: Wer ist Onkel Akul? Eben weil man mit so vielen primitiven Dingen anfangen muss, vergeht einem die Lust zum Weiterreden. Den Namen Shubhom hat mir Onkel Akul gegeben. Jetzt muss ich zunächst von Lubna erzählen. Wie sie gestorben ist und so weiter. Lubna war sehr dünn. Weil sie kaum Fleisch auf den Knochen hatte, ärgerten wir sie mit einem Vers aus dem Gedicht von Satyendranath Datta:

„Dattelpalmen knochig dürr, wie Hexen steh‘n sie da, mit Haaren fahl und wirr“.

Lubna blickte dann nur hilflos umher, und manchmal tropften ihr bei unserem herzlosen Gespött die Tränen nur so aus den Augen. Aber sie war unfähig, sich zur Wehr zu setzen.

Es war äußerst schwierig gewesen, Lubna zu verheiraten. Weil der Onkel nicht die ganze Mitgiftsumme aufbringen konnte, betrachteten auch ihre Schwiegereltern sie als dürre Dattelpalme. Wenn einem der Vers von den Dattelpalmen einfiel, erschien einem Lubnas kleine Schwester dagegen wie ein plumper Feigwurzbusch. Eines Morgens kam Onkel Akul völlig aufgelöst zu uns und erzählte weinend, dass Lubna bei ihren Schwiegereltern nach nur einer Nacht Bauchschmerzen gestorben sei. Aber die Frage ist, seit wann Lubna auf dem Wasser der alten Tista dahintreibt. Es kann doch nicht sein, dass sie sie in den Fluss geworfen haben, ohne Bescheid zu sagen.

Ja, jetzt fällt mir alles wieder ein, jetzt erinnere ich mich. Da Lubna kaum sprach, haben wir Cousins und Cousinen sie ziemlich tyrannisiert. Onkel Akul und die Tante schimpften mit uns. Lubna protestierte nicht, sie saß still da und klebte trockenes Papier zu einem Schreibheft zusammen. Was für Namen von Bäumen darauf standen, die wir noch nie gehört hatten ... Mit Mühe brachten wir Lubna in einem Debattierklub unter. In irgendeinem interschulischen Wettbewerb sollte sie einen Vortrag über ein bestimmtes Thema halten, das war an der Sankt-Gregory-Schule. Ich selbst brachte sie hin. Das Thema war so ähnlich wie „Der Ursprung der Zivilisation“. Als Lubna vorn vor den Zuhörern stand, begann sie wie ein Bambusblättchen zu zittern. Sie brachte kein Wort heraus. Ich saß in einer der vorderen Reihen und versuchte gedanklich, ihr Mut zukommen zu lassen, ich versuchte, ihr innerlich vorzusagen: „Sag, der Ursprung war in Phrygien, der Anfang lag in Kleinasien“. Alles, was ich ihr mental zuschickte, verfehlte die Adressatin. Man führte sie vom Podium herab. Was einer nicht kann, warum sollte man ihn genau das machen lassen – was für ein sinnlos vertaner Tag das damals war. Obendrein regnete es in Strömen. Im alten Dhaka hatte Onkel Barek, ein Bruder der Tante, einen Süßigkeitenladen. In diesem Laden saßen wir, stopften süße Balushas und salzige Nimakparas in uns hinein und tranken Wasser aus grünen Gläsern. Wieder zu Hause nahm Lubna Schlaftabletten. Ich war wütend auf Lubna, dass sie aus so einem sinnlosen Grund ihr Leben wegwarf, das heißt, ich war es beinahe. Ich vergaß doch ganz zu sagen, dass Lubna eine sehr schöne Stimme hatte. Sie spielte Bandoneon und sang, sich im Takt wiegend, Lieder des Dichters Kazi Nazrul Islam wie dieses:

„Die Knospe der Schönheit, die Lotosblume neigt ihr Köpfchen zum Wasser hin. Über den Fluss breitet der Baum seines Schattens kühlen Baldachin“.

Sie war mit ihrem Gesangslehrer, Sajid Hossein, weggelaufen, wir nannten ihn Sajid Bihari. In seiner Familie nannte sie niemand Lubna sondern Dulhin, die Braut; ich habe es selbst dort gehört. In einer Zeit großer Geldnot hat dieser Sajid Hossein Lubna entweder verkauft oder in einen Eisenbahnwagen mit unbekanntem Ziel gesetzt. Ob Lubna damals von einer Eisenbahnbrücke in einen Fluss mit starker Strömung sprang oder ob sie sich, als sie im Rotlichtviertel leben musste, vor Qual das Leben nahm und man sie danach ins Wasser warf, habe ich ganz und gar vergessen.

Über meinem Kopf flattert ein weißes Tuch wie ein zerrissenes Segel. Das ist zweifellos Lubnas Leiche. Was für ein Gesangsunterricht? Lubna beachtete doch streng alle Purdah-Regeln, Tanzen und Singen kamen ja gar nicht in Frage. Wenn sie zu ihrem Coaching-Zentrum ging, hüllte sie sich in ihren Urna-Schal ein. Manchmal brachte ich sie hin. Es nützte nichts, dass sie das Gesicht mit der Urna verhüllte. Unterwegs wurde sie von bösartigen Jungen gequält. Einer von ihnen hieß Kartuj – ach nein, Tota. Eines Tages fiel Lubna in die Hände dieses Tota, und dann noch an einem weiteren Abend, als es in Strömen regnete. Danach lag sie nackt im Regen, ihr Haarschopf war ausgerissen und an den Wangen fehlte Fleisch.

Alles in allem ist es sicher, dass Lubna tot ist. Sicher ist auch, dass sie sich außer Haus immer in ihre Urna einhüllte. Aber ob sie durch das Wasser oder das Feuer gestorben ist, lässt sich nicht sagen. Ob man sie auf dem Dach der Madrasa mit Petroleum übergossen hat … nein, so viele Gewalttaten kann mein Kopf nicht aushalten, ganz und gar nicht. Mein Kopf ist eine Knospe der Schönheit, eine Lotosblume.

Eben muss jemand da gewesen sein und das Fenster meines Zimmers geöffnet haben, und das gesamte Wasser der Tista ist wie in einer riesigen Verschwörung zum Fenster hinausgeströmt. Draußen gibt es viele Jiul-Sträucher, die Knospen angesetzt haben. Ein Kamar-Vogel ruft, sein Ruf klingt wie das Messinghämmerchen, mit dem Sajid Hossein immer seine Tabla stimmte. Oder wie das Rumpeln des Motors eines wartenden Lastwagens, der nebenan Ziegel ablädt. Dieses Feld hier wird nicht so bleiben, die Jiul-Sträucher werden verschwinden. Es sollen Häuser gebaut werden. Das Wasser ist aus meinem Fenster hinausgeflossen und hat meine Beobachtungen des Flusses und das Geheimnis von Lubnas Tod völlig kaputtgemacht, und ich konnte nichts dagegen machen. Ist das hier jetzt eine Fabrik? Oder ein Krankenhaus? Oder ein Gefängnis? Oder ein Kuhstall? Wo bin ich gelandet! Ich rufe mich selbst: „Shubhom, Shubhom!“ Ich antworte auf meinen eigenen Ruf und da bin ich wieder. Shubhasya Shighram! Fang an, ehe es zu spät ist! Das Fenster muss schnell geschlossen werden, draußen blubbert alles Üble.

Was sie einem hier zu essen geben …, richtiger Viehfraß! Heute Mittag habe ich mit dem Essen aufgehört und lange auf Onkel Akul gewartet. Aber niemand ist mit einem mehrstöckigen Essenbehälter gekommen. Ein Kater mit einem dicken Kopf begann mit großer Geduld auf den Teller mit meinem übrigen Essen zu warten. Auch er ist ein Geschöpf Gottes. Also überließ ich ihm sein tägliches Brot und ging ins Zimmer zurück.

Als ich mich ins Bett legen wollte, fiel ich schwankend ins Wasser des Tista. Während ich, nach Atem ringend, untersank, fiel mir ein, dass Lubna in Wirklichkeit gar nicht gestorben ist. Als sie vor den Leuten keinen Vortrag halten konnte, ist sie nicht an ihrem Versagen gestorben. Auch nach einer Nacht Durchfall ist sie nicht gestorben. Auch nachdem sie in ein Hurenviertel verkauft wurde, ist sie nicht gestorben. Auch nachdem Tota sie vergewaltigte und liegen ließ, blieb sie am Leben. Auch nachdem man sie auf dem Dach anzündete, starb sie nicht. Auch nachdem ihr Mann, Sajid Hossein, sie wegen der ausstehenden Mitgift tausendmal schlug, blieb sie am Leben. Auch nachdem Sajid Hossein sie wegjagte, lebte sie weiter. Lubna hat zwei hübsche Kinder zur Welt gebracht, einen Jungen und ein Mädchen. Sie bringt ihnen das gleiche Gedicht von Satyendranath Datta bei, mit dessen einem Vers wir sie früher zum Heulen brachten. Die Kinder rezitieren:

„An der Bambushütte am Ufer ragt eine Sandbank empor. Dort deckt mit Moos die Wildgans ihr Nest fürsorglich zu“.

Die Kinder spielen Bandoneon und singen zusammen: „Zu diesem Bache komm, Freund, setz dich unter den Bäumen zur Ruh“. „Seht ihr“, sagt Lubna, „meine Kinder sind nicht sprachgehemmt. Sie werden einen Vortrag über den Ursprung der Zivilisation halten können“.

Lubna sucht eine gute Schule für sie. Die Korallenbaumblüten- Schule ist eine bekannte Schule. Eine, die den Kindern den Ruf des Kamar-Vogels beibringt. Das passt doch alles haargenau zusammen. Lubna weiß ja nicht, dass sie bei der Suche nach einer Schule die Frage beantworten muss, ob sie noch mit Sajid Hossein verheiratet ist. Ich, ihr Kindheitsgefährte, ihr Verwandter, der ihr mental vorsagte, dass der Ursprung der Zivilisation in Phrygien liegt, bin nicht zur Stelle. Sonst hätte ich den versammelten klugen Leuten sagen können: „Fragen Sie sie nicht. Lubna kann ihre Frage nicht beantworten. Sie ist wie das Fischotterskelett, das im Flussbett liegt, wie der Kiefer eines Gavials, wie die Bronzebüste aus dem neunten Jahrhundert mit der abgebrochenen Nase. Glauben Sie mir, sie weiß nicht, dass sie ohne Beisein von Sajid Hossein keine gute Schule für ihre Kinder finden kann.“ Wenn sie, ohne dass Sajid Hossein dabei ist, eine gute Schule für ihre Kinder suchen will, darf sie nicht völlig verlegen dastehen, sonst wirkt sie wie eine Kindesentführerin. Wenn sie ohne Sajid Hossein eine gute Schule für die Kinder sucht und kein Wort hervorbringt und wie eine Kindesräuberin dasteht, wird sie von Leuten wie diesem Gemüsehändler und Wäscher und Mieter des neuen Palmyrapalmen-Hauses – einem Koranschul- Abgänger – öffentlich so zusammengeschlagen werden, dass in einer halben Stunde ihre Rippen das Herz zerstechen (so wie sich Lubna für Sajid Hossein eines Tages ein durchbohrtes Herz auf ihre Handfläche gemalt und darunter S+L geschrieben hatte). Und dann würde sie wie ein Stück von einem Segel oder eine Plastiktüte, wie ein durchsichtiges Schultertuch auf dem alten Fluss forttreiben müssen. Auch dann würden die Schläge nicht aufhören. Mit der Genugtuung, mit der man einen Fischotter totschlägt, würden die Leute auf Lubnas Brust herumtrampeln. Immer mehr und mehr Leute würden dazukommen und von diesem Getrampel ein Video machen. Während sie dann das Video ansähen, entführe ihnen ein bedauerndes „Oh weh“, wenn sie sähen, wie das Gehirn aus Lubnas Nase quillt, und sie würden sich fragen, ob sie vor ihrem Tod noch den Zeigefinger bewegt hat (in der Hoffnung, dass ihr jemand mit dem richtigen Wort zu Hilfe käme). Danach werden all dieses Oh-weh-Rufe mit dem Wind verschmelzen, mit dem Tista, dem alten Tista, dem Brahmaputra, dem alten Brahmaputra verschmelzen, mit den Feigwurzbüschen und den Dattelpalmen und zuletzt mit dem Süße verströmenden Ozean. Doch auch danach werden die Nächte zauberhaft sein, wird der Staub der Erde süß sein. Mit honigsüßer Stimme wird der Arzt oder Gefängnisleiter oder Gutsbesitzer mir versichern, dass meine Gesundung Fortschritte mache. Und dass es nur noch ein paar Tage dauern werde, bis ich mich wie Honig unter die Leute mischen könne, die so gesund sind, dass sie jemanden wegen des Verdachts der Kindesentführung öffentlich totschlagen. Jetzt, nachdem ich im Stande bin, das Geheimnis um Lubnas Tod zu durchdringen, so viele Schlüsse zu ziehen und die Abfolge der Ereignisse zu begreifen, befällt mich Müdigkeit. An den Flügeln des Ventilators, der sich über mir an der Decke dreht, hat sich ein Fetzen weißer Plastik verfangen, ich kann es genau sehen. Er sieht mich mit mitleidigen Augen an. Mit Lubnas Augen. Mit den Augen meiner Kindheitsgefährtin. Ihr habe ich als erster erklärt, dass man in der Tonbandaufnahme des Tagore-Liedes von Debabrata Biswas „Nun rufst du mich in die Feeerne“ das Geschrei der Krähen im Mangobaum hinter dem Studio hören kann. Ihr Krächzen dringt durch die Stimme. Auch damals hatte Lubna nichts gesagt, sondern mich bloß angesehen. Jetzt muss sie sich in die bodenlose Tiefe des Flussbettes schlafen legen. Wer war es nur, der mir beigebracht hat, dass am Grunde dieses Flusses eine Kette liegt … ? Eine sehr starke Kette, wer in ihm untertaucht, den zieht sie in die Tiefe. War es Onkel Akul oder Lubna?