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Trotz aller Hürden

Die strukturelle Benachteiligung von Frauen in vielen Lebensbereichen ist in Bangladesch gang und gebe - und wird nach wie vor als ein Nischenproblem gesehen. Doch es gab und gibt immer mehr engagierte Autorinnen, die gegen dieses Unrecht anschreiben. Feministische Literatur als Mittel für eine gerechtere Gesellschaft.

Text: Louise Sellmair

Frauenrechte sind Menschenrechte und Menschenrechte sind Frauenrechte. Auch wenn die meisten Menschen diesem Satz zustimmen würden, verwenden wir die beiden Begriffe nicht synonym. Die Unterscheidung von Menschenrechten und Frauenrechten macht zwei Dinge deutlich. Erstens: Frauen sind von Formen der Diskriminierung betroffen, unter denen Männer nicht leiden. Im Unabhängigkeitskrieg Bangladeschs 1971 vergewaltigten Soldaten der gegnerischen pakistanischen Armee Bengalinnen. Es war eine Art, Krieg zu führen. Eine Strategie, so perfide das auch klingt. Zweitens: In der patriarchalen Gesellschaft sind Menschen gleichbedeutend mit Männern.

Strukturelle Übergriffe auf Frauen aufgrund ihres Geschlechts werden kaum als Bedrohung für die gesamte Gesellschaft verstanden, sondern als ein Nischenproblem. Dass Frauen und ihre Be- dürfnisse vergessen werden, zeigt sich in der Politik, im Straßenverkehr, bei der Gender Data Gap (wenn ein Geschlecht bei gesellschaftlich relevanten Datenerhebung unterrepräsentiert oder unbeachtet bleibt). Und all das kann durchaus lebensbedrohliche Folgen haben.

Weniger gefährlich, aber durchaus ärgerlich ist die Nichtbeachtung von Frauen in der Literatur. Ähnlich wie bei dem Begriff Frauenrechte existiert Frauenliteratur, um Werke von Schriftstellerinnen zu kategorisieren. In diesem Ausdruck schwingt die Auffassung mit, dass Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit primär für eine weibliche Leserschaft schreiben, während Männer als Individuen Literatur schaffen, die universell ist und somit von allen Menschen genossen werden kann.

Zu dieser unterschiedlichen Bewertung von Schriftstellerinnen im Gegensatz zu Schriftstellern äußert sich Shagufta Sharmeen Tania, deren Kurzgeschichte „Der Wind verbreitet Süße“ in dieser Ausgabe zu finden ist. Sie beschreibt das Paradox, dass die Leserschaft von Autorinnen eine „andere“ Stimme erwartet – fast schon fordert - aber gleichzeitig diese, von der männlichen Norm abweichende, Literatur nicht lesen will. Doch Tania ist auch hoffnungsvoll, dass Autorinnen und ihre Werke heutzutage getrennt von Geschlechterzugehörigkeiten betrachtet werden können. Schließlich hat sich die patriarchalische Welt der bengalischen Literatur mit der Zeit verändert. Drei frühe Schriftstellerinnen, die den Weg für ihre Nachfolgerinnen geebnet haben, sind Rokeya Sakhawat Hossain, Sufia Kamal und Mahasweta Devi.

Rokeya Sakhawat Hossain ist eine der bekanntesten Lite- ratinnen Bangladeschs und eine Pionierin der Frauenbewegung. 1880 geboren hat sie schon früh erlebt, wie Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Interaktionen ausgeschlossen werden. Ab ihrem fünften Lebensjahr wird sie laut ihren eigenen Worten in einen „sozial bedrückenden Eisensarg“ eingesperrt. Mit diesem meint die Schriftstellerin die Praxis des Parda, die Frauen vorschreibt, sich von der Außenwelt abzuschotten und zuhause zu bleiben, um nicht in den Kontakt mit Männern außerhalb des Familienkreises zu kommen.

Trotz dieser erheblichen Einschränkungen bildet sich Hossain – besser bekannt als Begum Rokeya – weiter, lernt Bengalisch und Englisch. 1905 veröffentlicht sie die Kurzgeschichte „Sultana´s Dream“ und legt damit nicht nur einen Grundstein für die feministische Literatur Bangladeschs, sondern auch für feministische Science-Fiction weltweit. In dieser Utopie wird die traditionelle Geschlechtertrennung umgekehrt, sodass Männer nun im häuslichen Bereich tätig sind, während Frauen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft kontrollieren. Obwohl es sich bei dieser Kurzgeschichte nicht um ein feministisches Manifest handelt, argumentiert Begum Rokeya gegen eine angebliche Unterlegenheit von Frauen und macht deutlich, dass Bildung und das Verbot von Kinderheirat für die Befreiung von Frauen notwendig sind.

„Es wurde eine Reihe von Mädchenschulen gegründet und von der Regierung unterstützt. Bildung wurde weit und breit unter den Frauen verbreitet. Und auch die frühe Heirat wurde unterbunden. Keine Frau durfte heiraten, bevor sie einundzwanzig war. Ich muss Ihnen sagen, dass wir vor dieser Änderung in strikter Purdah gehalten worden waren.“

 Die Autorin belässt es nicht nur bei Fiktion, sondern gründet 1910 die erste Schule für muslimische Mädchen in Bengalen. Mit ihren Ideen und Initiativen ruft sie die Bewegung für die Förderung von muslimischen Bengalinnen ins Leben, die im Vergleich zu hinduistischen Frauen noch geringere Bildungschancen hatten. In einer Zeit, in der der öffentliche Diskurs über die Rolle der Frau hauptsächlich von Männern aus der Oberschicht geführt wird, bildet sie eine Ausnahmeerscheinung. Als Aktivistin und Mitbegründerin der feministischen Literatur, wird sie noch heute am 9. Dezember gefeiert und Bangladeschs Regierung verleiht an diesem Tag eine nach ihr benannte Auszeichnung an herausragende Frauen.

Als Begum Rokeya die siebenjährige Sufia Kamal 1918 in Kalkutta trifft, ist beiden wohl noch nicht bewusst, dass das junge Mädchen einmal zu einer herausragenden Dichterin und Feministin der nächsten Generation heran- wachsen wird. Ähnlich wie Rokeya Begum wird Kamal in eine wohlhabende, aber konservative Familie hineingeboren, die Bildung von Frauen als unwichtig erachtet. Mit zwölf Jahren heiratet sie einen Cousin und zieht mit ihm nach Kalkutta. In der Metropole knüpft sie erste Kontakte zur literarischen Szene, probiert sich im Schreiben aus und veröffentlicht ihre erste Kurzgeschichte „Soldier´s Bride“, in der sie bereits die Rolle der Frau thematisiert.

Erfolg erlangt sie 1938 mit ihrer Gedichtsammlung „Sanjher Maya“, die von Nationaldichtern wie Kazi Nazrul Islam und Rabindranath Tagore gepriesen wird. Neben ihren schriftstellerischen Tätigkeiten unterstützt Kamal an vorderster Front die in den 1950er-Jahren immer stärker werdende Bewegungen für die Unabhängigkeit Bangladeschs und die Anerkennung des Bengalischen als Staatssprache. Ihr Einsatz für kulturelle, soziale und politische Reformen zeigt ihr tiefes Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Formen der Unterdrückung. 1970 entsteht durch ihre Initiative die „Bangladesh Mahila Parishad“, heute die größte Frauenrechtsorganisation Bangladeschs mit Tausenden ehrenamtlichen Mitstreiter*innen.

Wie stark Literatur und Aktivismus verschmelzen können, demonstrieren die Werke von Mahasweta Devi. In Kontrast zu ihrem sehr einfachen Schreibstil behandelt sie komplexe Themen und Emotionen: Ihre Kurzgeschichte „Drapaudi“, angelehnt an den Mahābhārata-Epos der indischen Mythologie, handelt von der Protagonistin Dopdi, die als Widerstandskämpferin gegen die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Westbengalens rebelliert. Um Informationen über einen Aufstand zu erlangen, vergewaltigen sie mehreren Polizeioffizieren. Als diese nach der Vergewaltigung von ihr fordern, sich wieder zu bedecken, stellt sie sich nackt blutend vor ihnen auf und sagt mit den Händen in die Hüften gestemmt: „Es gibt hier keinen einzigen Mann, angesichts dessen ich mich schämen müsste.“ Dopdi konfron tiert die Männer also mit den Konsequenzen ihres schrecklichen Handelns und macht deutlich, dass sie – anders als die Männer selbst – kein Grund zu Scham hat. Mahasweta Devi dreht die Machtdynamik zwischen Tätern und Opfer um; die Polizisten beginnen sich vor Dopdis ungebrochener Haltung zu fürchten. Vor dem Hintergrund einer alarmierend hohen Anzahl an Vergewaltigungsfällen, zu denen es in Südasien jedes Jahr kommt und der häufig folgenden Stigmatisierung der Opfer ist Dopdi eine Gallionsfigur für alle Frauen, die sich den sozialen Repressalien einer patriarchalen Gesellschaft zur Wehr setzen.

Auch das macht Literatur von Frauen aus: Sie schafft weibliche Charaktere, die nicht in Selbstmitleid zerfließen oder an Herausforderungen und ihrem Leid zerbrechen. Das Schreiben ermöglicht ihnen, das Narrativ zu verändern: Sie werden von Objekten (der sexuellen Begierde) zu Subjekten die aktiv handeln und für sich selbst sprechen.

 Immer mehr Mädchen und Frauen in Bangladesch bekommen durch größere Bildungschancen einen Zugang zur Literatur: 2020 wurden auf der nationalen Ekushey- Buchmesse in Dhaka so viele Bücher von Frauen ausgestellt wie noch nie zuvor, und viele von diesen Werken gehörten zu den Bestsellern der Messe. Diese Erfolge sind Pionierinnen wie Begum Rokeya oder Sufia Kamal, Menschenrechtsaktivistinnen, die sich für die Bildung und Gleichberechtigung einsetzen, und allen Frauen, die Literatur schaffen, zu verdanken. Und auch wenn diese Fortschritte durch konservative Kräfte in der Gesellschaft bedroht sind und Lesen für viele Frauen noch immer nicht selbstverständlich ist: Literatur von Frauen ist eine bedeutende gesamtgesellschaftliche Errungenschaft.

Die Autorin war bis September 2021 Bundesfreiwillige bei NETZ und hat diese Zeitschriftenausgabe als eigenständige Projektarbeit verantwortet. Dazu hat sie unter anderem viele Austausch-Gespräche mit Frauenrechts-Aktivistinnen in Bangladesch geführt.

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